Anfang 2019 wurde in dem sozialen Netzwerk Facebook ein falsches Zitat der deutschen Politikerin Renate Künast (Bündnis 90/Die Grünen) verbreitet, auf das zahlreiche Facebook-Nutzer mit gegen Frau Künast gerichteten Hasskommentaren reagierten. Frau Künast stellte daraufhin beim Landgericht Berlin einen Auskunftsantrag gem. § 14 Abs. 3 Telemediengesetz (TMG a.F.), um zur Ermöglichung zivilrechtlicher Schritte gegen die Verfasser der Kommentare zu erreichen, dass Facebook deren Bestandsdaten herausgibt. Der Erfolg eines solchen Antrags setzt u.a. voraus, dass es sich bei den beanstandeten Äußerungen um rechtswidrige Inhalte gem. § 1 Abs. 3 NetzDG handelt, vorliegend um strafbare Beleidigungen gem. § 185 StGB.
Das Landgericht Berlin gestattete auf den Antrag von Frau Künast die Auskunftserteilung nur bezüglich einiger Formalbeleidigungen wie „Stück Scheiße“ oder „Schlampe“ und wies den Antrag überwiegend zurück. Das Kammergericht als nächsthöhere Instanz gestattete die Auskunftserteilung zwar auch wegen weiterer Äußerungen wie „grünes Dreckschwein“ und „perverse Drecksau“, bestätigte die Auffassung des Landgerichts aber im Wesentlichen. Nach Ansicht des Kammergerichts seien Kommentare wie „Pädophilen-Trulla“, „geisteskrank“ oder „gehirnamputiert“ von der Meinungsäußerungsfreiheit gedeckt und damit nicht strafbar. Die beanstandeten Äußerungen stünden insbesondere in einem sachlichen Zusammenhang mit einem Zwischenruf Künasts im Rahmen einer im Jahr 1986 im Berliner Abgeordnetenhaus aufkommenden Debatte über die Haltung der Grünen zur Pädophilie. Derartige Anfeindungen, bei denen es sich nicht um reine Formalbeleidigungen handele, seien von Berufspolitikerinnen und Berufspolitikern hinzunehmen.
Auf die von Frau Künast gegen die Entscheidung des Kammergerichts eingelegte Verfassungsbeschwerde trat das BVerfG dieser Auffassung entgegen. Zwar äußerte auch das BVerfG, dass die Grenzen zulässiger Kritik an Politikerinnen und Politikern weiter zu ziehen seien als bei Privatpersonen. Dies dürfe jedoch nicht dazu führen, dass Politikerinnen und Politiker jedwede Beleidigung hinzunehmen hätten, solange es sich dabei nicht um reine Schmähkritik handele. Auch bei Bestehen eines sachlichen Zusammenhangs mit einer öffentlichen Debatte sei jede einzelne Äußerung auf ihren Sinngehalt zu überprüfen und sodann im Rahmen einer Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls die Meinungsfreiheit der bzw. des Äußernden (Art. 5 GG) gegen das Persönlichkeitsrecht der bzw. des Betroffenen (Art. 1, 2 GG) abzuwägen. Dies gelte für Privatpersonen wie für Politikerinnen und Politiker.
Diese notwendige Abwägung haben das Landgericht und das Kammergericht in ihren Entscheidungen unterlassen und haben stattdessen zu Unrecht angenommen, Berufspolitikerinnen und Berufspolitiker müssten jedwede Anfeindung im öffentlichen Meinungskampf hinnehmen, solange nur irgendein sachlicher Zusammenhang mit einer öffentlichen Äußerung oder Sachdebatte hergestellt werden könne.
Das BVerfG weist zutreffend darauf hin, dass auch Politikerinnen und Politiker einen Anspruch auf den Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte haben und dies auch im öffentlichen Interesse liegt. Wenn die Persönlichkeitsrechte von Politikerinnen und Politikern nicht hinreichend geschützt werden, könne eine hohe Bereitschaft des Einzelnen zur Mitwirkung in Staat und Gesellschaft kaum erwartet werden.
Ebenfalls zu Recht trat das BVerfG der Auffassung der Instanzgerichte entgegen, dass aufgrund des im Internet zu beobachtenden Sprachverfalls und einer Verrohung bis hin zur Radikalisierung des gesellschaftlichen Diskurses ein großzügigerer Maßstab zugunsten der Verfasserinnen und Verfasser von Hasskommentaren anzulegen sei. Nach Ansicht des BVerfG sei zwar zu berücksichtigen, ob eine Äußerung mündlich, ad hoc und in einer hitzigen Debatte gefallen ist oder – wie vorliegend – in Textform. Gerade bei schriftlichen bzw. textlichen Äußerungen sei vom Urheber aber ein höheres Maß an Bedacht und Zurückhaltung zu erwarten. Dies gelte auch für Äußerungen in sozialen Netzwerken.
Das BVerfG gab der Verfassungsbeschwerde von Frau Künast statt, hob die Entscheidungen der Instanzgerichte auf und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung an das Kammergericht zurück.
Wozu Hasskommentare in sozialen Netzwerken führen können, zeigt unter anderem der Fall des Politikers Tareq Alaows (Bündnis 90/Die Grünen). Dieser sah sich aufgrund zahlreicher Angriffe und Drohungen gegen seine Person zur Rücknahme seiner Kandidatur für die Bundestagswahl 2021 veranlasst. Auch auf die Bekanntgabe der Kandidatur von Frau Ricarda Lang als Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen im Dezember 2021 folgte eine große Zahl an Hasskommentaren in sozialen Netzwerken. Für Frau Lang war Preu Bohlig & Partner bereits in mehreren Fällen mit Auskunftsanträgen gem. § 21 Abs. 2 und 3 TTDSG (§ 14 Abs. 3 TMG a.F.) erfolgreich. Aufgrund der aktuellen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts dürften die Erfolgsaussichten derartiger Anträge noch gestiegen sein.