1. Dem Vorabentscheidungsersuchen des BGH ging ein Rechtstreit voraus zwischen der Ferrari SpA und der Mansory Design & Holding GmbH aufgrund der angeblichen Verletzung von Rechten aus mehreren nicht eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmustern (GGM) von Ferrari.
Ferrari stellte seinen Sportwagen FXX K erstmals im Rahmen einer Pressemitteilung am 02.12.2014 vor, die nachfolgende Fotografien des Fahrzeugs zeigte:
(Bild im Newsletter dargestellt)
Besonderes Merkmal des FXX K ist das „V“-förmige Element auf der Fronthaube, die mittig aus der Fronthaube herausragenden flossenartigen Elemente, der in die Stoßstange integrierte zweiteilige Frontspoiler und dessen mittiger Verbindungssteg, der den Frontspoiler mit der Fronthaube verbindet. Nach Auffassung von Ferrari werden diese Elemente als Einheit verstanden, die die individuellen „Gesichtszüge“ dieses Fahrzeugs bestimmen (vgl. Tz.18).
Mansory Design bot mehrere Tuning-Kits an, mit denen anderen Ferrari-Modellen das Aussehen des FXX K gegeben werden konnte.
Ferrari stützte seine Klage auf insgesamt 3 nicht eingetragene GGM: die „V“-förmige Fronthaube, hilfsweise den zweischichtigen Frontspoiler und weiter hilfsweise auf das Fahrzeug im Ganzen, wie es in der Pressemitteilung in einer Schrägansicht offenbart wurde. Darüber hinaus machte Ferrari beschränkt auf Deutschland Ansprüche aus ergänzendem, wettbewerbsrechtlichen Leistungsschutz (§ 4 Nr. 3 UWG) geltend (Tz. 19 ff.).
2. Das Landgericht Düsseldorf wies die Klage insgesamt ab. Das Oberlandesgericht Düsseldorf wies die Berufung von Ferrari mit der Begründung zurück, dass allein ein nicht eingetragenes GGM an dem durch die Pressemitteilung veröffentlichten Sportwagen als Gesamterzeugnis entstanden sei, dieses aber durch den Vertrieb der streitgegenständlichen Tuning-Kits von Mansory Design nicht verletzt worden sei (Tz. 24).
3. Im Revisionsverfahren legte der BGH dem EuGH im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEUV folgende Fragen vor (Tz. 28):
(1) Können durch die Offenbarung einer Gesamtabbildung eines Erzeugnisses gemäß Art. 11 (1) und (2) S. 2 der Verordnung Nr. 6/2002 (GGV) nicht eingetragene GGM in einzelnen Teilen des Erzeugnisses entstehen?
(2) Für den Fall, dass die Frage (1) bejaht wird: Welcher rechtliche Maßstab ist im Rahmen der Prüfung der Eigenart nach Art. 4 (2) (b), Art. 6 (1) GGV bei der Ermittlung des Gesamteindrucks im Falle eines Bauelements anzulegen, dass – wie etwa ein Teil einer Fahrzeugkarrosserie – in ein komplexes Erzeugnis eingefügt wird? Darf insbesondere darauf abgestellt werden, ob die Erscheinungsform des Bauelements in der Wahrnehmung des informierten Benutzers nicht vollständig in der Erscheinungsform des komplexen Erzeugnisses untergeht, sondern eine gewisse Eigenständigkeit und Geschlossenheit der Form aufweist, die ermöglicht, einen von der Gesamtform unabhängigen ästhetischen Gesamteindruck festzustellen?
4. Der EuGH führt in seiner Entscheidung vom 28.10.2021 zunächst allgemein aus (Tz.31), dass Ziel der GGV unter anderem sei, ein Geschmacksmuster einzuführen, das Schutz in allen Mitgliedsstaaten der EU begründet und dadurch zur Innovation und zur Entwicklung neuer Erzeugnisse führe sowie zur Investitionen in die Herstellung dieser Erzeugnisse ermutige (Tz. 31). Darüber hinaus habe der Unionsgesetzgeber mit Einführung des nicht eingetragenen GGM die Förderung der Innovation von Geschmacksmuster speziell für Erzeugnisse beabsichtigt, die nur eine kurze Lebensdauer auf dem Markt haben und für die ihre Entwerfer einen schnellen und wirksamen Schutz ohne Eintragungsformalitäten wünschen und für welche die Schutzdauer von geringerer Bedeutung sei (Tz. 32).
5. Die materiellen Voraussetzungen für die Entstehung des Schutzes eines – eingetragenen oder nicht eingetragenen – GGM, d.h. die Neuheit und die Eigenart, sind für Erzeugnisse und deren Teile dieselben. Für den Schutz der Erscheinungsform eines Bauelements eines komplexen Erzeugnisses sind zudem die in Art. 4 (2) GGV genannten Erfordernisse zu beachten (Tz. 33). Dies sind (i) Sichtbarkeit bei bestimmungsgemäßer Verwendung und (ii) Neuheit und Eigenart der sichtbaren Merkmale des Bauelements selbst.
6. Im Hinblick auf die formellen Voraussetzungen für die Entstehung eines nicht eingetragenen GGM hält der EuGH fest (Tz. 36), dass es der Öffentlichkeit gemäß Art. 11 (2) GGV in solcher Weise bekannt gemacht, ausgestellt, im Verkehr verwendet oder auf sonstige Weise offenbart werden muss, dass dies den in der Union tätigen Fachkreise des betreffenden Wirtschaftszweigs im normalen Geschäftsverlauf bekannt sein konnte.
7. Vor diesem Hintergrund kommt der EuGH zu dem Schluss, dass es für die Entstehung eines nicht eingetragenen GGM an einem Teil eines in seiner Gesamtheit offenbarten Erzeugnisses zunächst unabdingbar sei, dass die Erscheinungsform dieses Teils bei der Offenbarung klar erkennbar sei. Andernfalls könnten die Fachkreise nämlich nicht die geforderte Kenntnis von dem betreffenden Teil des Erzeugnisses erlangen (Tz. 38). Es sei für das Erfordernis der Erkennbarkeit des Schutzgegenstands aber nicht erforderlich, jedes einzelne Teil eines Erzeugnisses gesondert zu offenbaren. Eine solche Pflicht liefe dem Ziel der Einfachheit und Schnelligkeit zuwider, welches die Einführung des nicht eingetragenen GGM gerechtfertigt hat (Tz. 40).
8. Der EuGH hält aber fest, dass es im Hinblick auf die Prüfung der Eigenart des nicht eingetragenen GGM erforderlich sei, dass der in Rede stehende Teil eines Erzeugnisses oder das in Rede stehende Bauelement eines komplexen Erzeugnisses sichtbar und durch Merkmale abgegrenzt sei, die seine besondere Erscheinungsform bilden, d.h. durch Linien, Konturen, Farben, die Gestalt oder eine besondere Oberflächenstruktur. Dies setze voraus, so der EuGH weiter, dass die Erscheinungsform dieses Teils eines Erzeugnisses oder dieses Bauelements eines komplexen Erzeugnisses geeignet sein muss, selbst einen „Gesamteindruck“ beim informierten Benutzer hervorzurufen, und nicht vollständig in dem Gesamterzeugnis untergeht (Tz. 50).
9. Vor diesem Hintergrund beantwortet der EuGH die vom BGH gestellten Fragen wie folgt:
(1) Art. 11 (2) GGV ist dahingehend auszulegen, dass, wenn Abbildungen eines Erzeugnisses der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, wie bei der Veröffentlichung von Fotografien eines Fahrzeugs, dies dazu führt, dass ein Geschmacksmuster an einem Teil dieses Erzeugnisses im Sinne von Art. 3 (a) GGV oder an einem Bauelement dieses Erzeugnisses als komplexen Erzeugnis im Sinne von Art. 3 (c) und Art. 4 (2) GGV der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, sofern die Erscheinungsform dieses Teils oder Bauelements bei dieser Offenbarung eindeutig erkennbar ist.
(2) Damit geprüft werden kann, ob diese Erscheinungsform die Voraussetzung der Eigenart im Sinne von Art. 6 (1) GGV erfüllt, ist es erforderlich, dass der in Rede stehende Teil oder das in Rede stehende Bauelement einen sichtbaren Teilbereich des Erzeugnisses oder des komplexen Erzeugnisses darstellt, der durch Linien, Konturen, Farben, die Gestalt oder eine besondere Oberflächenstruktur klar abgegrenzt ist.
10. Die Entscheidung des EuGH gibt neue Richtlinien für die Beurteilung nicht eingetragener GGM und stärkt deren Bedeutung signifikant. Zukünftig wird es möglich sein, Rechte aus einem nicht eingetragenen GGM auch für einzelne Teile eines Gesamterzeugnisses herzuleiten. Wichtig ist, dass das entsprechende Element klar erkennbar und sichtbar ist und nicht in der Erscheinungsform des Gesamterzeugnisses untergeht.