Der EuGH hat folgendes auf die Vorlagefrage des LG München I geantwortet:
Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2004/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Rechtsprechung entgegensteht, wonach der Erlass einstweiliger Maßnahmen wegen der Verletzung von Patenten grundsätzlich verweigert wird, wenn das in Rede stehende Patent nicht zumindest ein erstinstanzliches Einspruchs‑ oder Nichtigkeitsverfahren überstanden hat.
Die Vorlagefrage des Landgerichts München I ist vielfach kommentiert und auch kritisch gesehen worden. Eine Zusammenfassung der sich aus der Vorlagefrage ergebenden Probleme und Kritik finden Sie hier.
„Grundsätzlich“
Um es kurz zusammenzufassen: die entscheidende Bedeutung sowohl der Vorlagefrage als auch der Antwort des EuGH liegt in der nicht geklärten Ambivalenz des Begriffs „grundsätzlich“.
Die Ambivalenz liegt darin, dass dieser Begriff ganz unterschiedliche Bedeutungen annehmen kann. „Grundsätzlich“ kann bedeuten, dass es sich um eine Regel handelt, von der es Ausnahmen oder zu der es Alternativen gibt. „Grundsätzlich“ kann aber auch bedeuten, dass es sich bei der Regel um eine notwendige Bedingung handelt, die eintreten muss.
Diese Ambivalenz und Unschärfe des Begriffs „grundsätzlich“ ist der Kern der geführten Diskussion und Auseinandersetzung. Nach der unbestrittenen Rechtsprechung der Oberlandesgerichte Düsseldorf, Karlsruhe und auch München [1] kommt der Erlass einer einstweiligen Verfügung in Patentstreitsachen nur dann in Betracht, wenn sowohl die Frage der Patentverletzung, als auch der Bestand des Patents im Ergebnis so eindeutig zugunsten des Antragstellers zu beantworten sind, dass eine fehlerhafte Entscheidung nicht ernstlich zu erwarten ist.
Die Diskussion dreht sich daher allein um die Frage, welcher Maßstab an diese erforderliche Prognoseentscheidung der Gewissheit des Rechtsbestands angelegt wird. Die genannten Oberlandesgerichte haben sich dafür ausgesprochen, dass ein überstandenes Rechtsbestandsverfahren ausreicht, um diese Sicherheit annehmen zu können. Daneben gibt es aber alternative Fallgruppen, unter denen eine solche Sicherheit gleichfalls angenommen werden kann. Dies wurde zum Beispiel bejaht,
oder
Die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte ging also davon aus, dass der Begriff „grundsätzlich“ nur eine Regel für die Bejahung einer von mehreren Tatbestandsvoraussetzungen umschreibt und es daneben Alternativen gibt, die den Erlass einer einstweiligen Verfügung im Einzelfall zulassen. Die wichtigste dürfte sein, dass sich die Einwendungen gegen den Rechtsbestand bei summarischer Prüfung als haltlos erweisen.
Inhalt der EuGH-Entscheidung
Die nunmehr entscheidende Frage ist daher, welche Antwort auf die Vorlagefrage eigentlich der EuGH im Kontext dieser Rechtsprechung überhaupt gegeben hat.
Der EuGH führt im letzten Absatz vor der Entscheidungsformel aus, dass die Durchsetzungsrichtlinie
„einer nationalen Rechtsprechung entgegensteht, wonach der Erlass einstweiliger Maßnahmen wegen der Verletzung von Patenten grundsätzlich verweigert wird, wenn das in Rede stehende Patent nicht zumindest ein erstinstanzliches Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren überstanden hat.“
Auch hier taucht wieder das ambivalente Wort „grundsätzlich“ (engl. Fassung: in principle, frz.: en principe) auf, wenn darauf hingewiesen wird, dass der Erlass einer einstweiligen Verfügung nicht „grundsätzlich verweigert“ werden dürfe.
Erhellend für das Verständnis dieses Satzes ist aber vielleicht die Umschreibung der Vorlagefrage in Rz. 26 durch den EuGH, wo es heißt:
Nach dieser Rechtsprechung setze der Erlass einstweiliger Maßnahmen darüber hinaus das Vorliegen einer Entscheidung im Einspruchs‑/Beschwerdeverfahren vor dem EPA oder des Bundespatentgerichts (Deutschland) im Nichtigkeitsverfahren voraus, mit der bestätigt werde, dass das betreffende Patent für das in Rede stehende Produkt Schutz entfalte.
Der EuGH ging also ersichtlich davon aus, dass eine Entscheidung in einem Rechtsbestandsverfahren die Voraussetzung für eine einstweilige Verfügung sei. Die Entscheidung im Rechtsbestandsverfahren sei demnach also die Bedingung für die Begründetheit des Verfügungsverfahrens.[2]
Eine solche Rechtsprechung hat es in Deutschland aber nie gegeben. Umgekehrt hätte wohl bereits das Landgericht München I den Erlass einer einstweiligen Verfügung bejahen können, denn nach der Wiedergabe der Vorlagefrage in der Entscheidung des EuGH hatte das LG München I bereits die Überzeugung gewonnen, dass das in Rede stehende Patent rechtsbeständig sei. So berichtet der EuGH in Rz. 24:
Das vorlegende Gericht führt aus, es sei zu der vorläufigen Schlussfolgerung gelangt, dass das in Rede stehende Patent rechtsbeständig und verletzt sei. Der Bestand des Patents sei nicht gefährdet.
Offensichtlich haben hier das LG München und der EuGH aneinander vorbei gesprochen. Der EuGH war ersichtlich der Auffassung, dass das abgeschlossene Rechtsbestandsverfahren eine conditio sine qua non für den Erlass einer einstweiligen Verfügung sei. Nach der Rechtsprechung des OLG München „Elektrische Anschlussklemme“ hätte hingegen die einstweilige Verfügung auch ohne ein Rechtsbestandsverfahren erlassen werden können, wenn das Landgericht sich hinsichtlich des Rechtsbestands so sicher war.
Konsequenzen der EuGH-Entscheidung
Die nun weiter zu beantwortende Frage ist daher, wie man mit der EuGH-Entscheidung umgehen wird.
Tatsächlich sagt sie, dass nach der Durchsetzungsrichtlinie ein abgeschlossenes Rechtsbestandsverfahren keine conditio sine qua non für ein Verfügungsverfahren sein darf. Dies war aber auch nie Inhalt der Rechtsprechung.
Dagegen sagt die Entscheidung nichts darüber, wie die Patentstreitgerichte die hinreichende Sicherheit in ihrer Prognoseentscheidung über den Rechtsbestand des Verfügungspatents erlangen sollen.
Ein Missverständnis wäre es, der Entscheidung des EuGH zu entnehmen, dass ein Rechtsbestandsverfahren „grundsätzlich“ nicht mehr verlangt werden könne oder müsse und daher auch eine geringere Sicherheit des Rechtsbestands des Verfügungspatents für eine einstweilige Verfügung ausreichen müsse. Denn hierzu hat der EuGH bei Licht besehen nichts gesagt.
Unbestritten werden die Patentstreitgerichte daher weiterhin vor der Aufgabe stehen, den Rechtsbestand des Patents im Verfügungsverfahren so zu prüfen, dass eine fehlerhafte Entscheidung nicht ernstlich zu erwarten ist.
An dieser Prämisse hat sich durch die Entscheidung des EuGH materiell nichts geändert. Mit einiger Wahrscheinlichkeit werden auch die Oberlandesgerichte diese Sichtweise beibehalten, sodass am Ende nur die alte Fußball-Weisheit bleibt:
Nach dem Spiel ist vor dem Spiel.
[1] OLG München, GRUR 2020, 385 – Elektrische Anschlussklemme,
[2] Engl. Fassung Rz. 26: … the patent concerned must also be the subject of an EPO decision in opposition or appeal proceedings, …
Frz. Fassung Rz. 26: … le brevet concerné devrait en outre faire l’objet d’une décision de l’OEB dans le cadre d’une procédure d’opposition …