1. Der EuGH hatte die Frage zu beantworten, ob im Rahmen eines Verletzungsverfahrens aus einem Gemeinschaftsgeschmacksmuster das Gericht eines Mitgliedsstaats neben einem Beklagten, der seinen Geschäftssitz im Inland hatte auch unionsweite Sanktionen gegen einen weiteren, in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Beklagten treffen kann.
Die Frage des anwendbaren Rechts, die der EuGH zu beantworten hatte, betraf Art. 8 Abs. 2 Rom II-VO. Danach ist bei außervertraglichen Schuldverhältnissen wegen einer Verletzung von gemeinschaftsweit einheitlichen Rechten des geistigen Eigentums auf Fragen, die nicht unter den einschlägigen Rechtsakt der Gemeinschaft fallen, das Recht desjenigen Staates anzuwenden, in dem die Verletzung begangen wurde. Konkret ging es um die Frage, wie der Ort „in dem die Verletzung begangen wurde“ in Art. 8 Abs. 2 Rom II-VO zu bestimmen ist, wenn der Verletzer designverletzende Waren über eine Website anbietet und diese Website – auch – auf andere Mitgliedstaaten als den Mitgliedstaat ausgerichtet ist, in dem der Verletzer ansässig ist.
2. Hintergrund der Entscheidung des EuGH waren zwei Vorlagen des OLG Düsseldorf in Sachen „Fernbedienung für Videospielkonsolen „(GRUR 2016, 616) und „Balance Board“ (GRUR-RS 2016, 02936). In beiden Verfahren ging Nintendo auf Basis von Gemeinschaftsgeschmacksmustern gegen das in Frankreich ansässige Unternehmen BigBen (BigBen Frankreich) und deren in Deutschland ansässigen Tochtergesellschaft (BigBen Deutschland) vor. Beide Beklagten vertrieben Zubehör für die von Nintendo stammende Spielkonsole „Wii“. Die Muttergesellschaft BigBen Frankreich stellte das mit der Spielkonsole Wii kompatible Zubehör her und vertrieb dies auf der eigenen Website unmittelbar an Verbraucher u.a. in Frankreich, Belgien und Luxemburg. Verkauf und Vertrieb in Deutschland und Österreich übernahm die Tochtergesellschaft BigBen Deutschland über ihre eigene Website. Bestellungen von Verbrauchern bei BigBen Deutschland wurden an BigBen Frankreich weitergeleitet und sodann aus Frankreich geliefert. Nintendo verklagte daraufhin sowohl BigBen Frankreich als auch BigBen Deutschland vor dem Landgericht Düsseldorf wegen Designverletzung auf Unterlassung, Auskunftserteilung, Rechnungslegung, Feststellung der Schadensersatzpflicht, Vernichtung und Rückruf der angegriffenen Waren, und zwar ohne räumliche Beschränkungen.
3. Während sich die internationale Zuständigkeit und unionsweite Kognitionsbefugnis des angerufenen Gerichts für BigBen Deutschland unproblematisch aus Art. 82 Abs. 1, 83 Abs. 1 GGV ergab, wurde die internationale Zuständigkeit für die gegen BigBen Frankreich gerichteten Anträge auf Art. 79 Abs. 1 GGV i.V.m. dem damaligen Art. 6 Nr. 1 EuGVVO (VO (EG) Nr. 44/2001) gestützt. Denn für den Fall mehrerer Beklagter sieht die GGV keine vorrangigen Regelungen vor, sodass die EuGVVO anwendbar bleibt (Art. 79 Abs. 1 GGV). Dies gilt für die UMV gleichermaßen (Art. 121 Abs. 1 UMV). Art. 6 Nr. 1 EuGVVO a.F. (heute Art. 8 Abs. 1 EuGVVO – VO (EU) Nr. 2015/1215) regelt, dass Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben und zusammen verklagt werden, zusammen vor dem Gericht des Ortes verklagt werden können, an dem einer der Beklagten seinen Wohnsitz hat, sofern zwischen den Klagen eine so enge Beziehung gegeben ist, dass eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung geboten erscheint, um zu vermeiden, dass in getrennten Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen könnten.
Das Landgericht Düsseldorf bejahte zwar seine internationale Zuständigkeit für die französische Muttergesellschaft nach Art. 6 Abs. 1 EuGVVO a.F., beschränkte jedoch die Reichweite seiner Entscheidung für die sich nicht unmittelbar aus der GGV ergebenden Nebenansprüche auf Handlungen der Muttergesellschaft BigBen Frankreich, die im Zusammenhang mit Lieferung an BigBen Deutschland standen. Dieser Auslegung des Art. 6 Abs. 1 EuGVVO a.F., wonach die internationale Zuständigkeit gegenüber dem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Beklagten zwar bejaht wird, aber die Reichweite der Entscheidung auf nur diejenigen Handlungen beschränkt wird, die den Zusammenhang der Klagen unmittelbar begründenden, erteilte der EuGH eine Absage (Tz. 53 ff.).
4. Unter Verweis auf die noch zur Gemeinschaftsmarkenverordnung (VO (EG) Nr. 40/94) ergangene Entscheidung „DHL Express France“ (GRUR 2011, 518) führt der EuGH aus, dass die räumliche Reichweite eines Unterlassungsanspruchs auf Basis einer Gemeinschaftsmarke sowohl durch die räumliche Zuständigkeit begrenzt werde als auch durch die räumliche Reichweite des ausschließlichen Rechts des Inhabers der verletzten Gemeinschaftsmarke (Tz. 53). Aufgrund der Ähnlichkeit der Gemeinschaftsmarkenverordnung und der Gemeinschaftsgeschmacksmusterverordnung überträgt der EuGH diesen Ansatz ohne weiteres auf den in Art. 89 Abs. 1 lit. a GGV unionsrechtlich geregelten Unterlassungsanspruch bei Verletzung eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters (Tz. 54).
Hierbei belässt es der EuGH jedoch nicht, sondern zieht dieselben Grundsätze auch für die Bestimmung der räumlichen Reichweite von Anordnungen eines Unionsmarkengerichts bzw. Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichts auf andere Sanktionen und Maßnahmen heran, die sich nicht unmittelbar aus Unionsrecht, sondern aus nationalem Recht ergeben (Tz. 55). Zur Begründung der unionsweiten Kognitionsbefugnis eines international zuständigen Gerichts auch hinsichtlich etwaiger im nationalen Recht eines Mitgliedsstaats geregelten Nebenansprüche stellt der EuGH insbesondere auf das Ziel der GGV ab, die Rechte aus einem Gemeinschaftsgeschmackmuster in der gesamten Union wirksam zu schützen. Dieses im 29. Erwägungsgrund der GGV hervorgehende Ziel ist nach Auffassung des EuGH von grundlegender Bedeutung, weil das Gemeinschaftsgeschmacksmuster einheitlich sei und in der gesamten Union gemäß Art. 1 Abs. 2 GGV dieselbe Wirkung habe. Das von der GGV geschaffene System des Schutzes eines unionsweiten einheitlichen Rechts werde sowohl durch einige grundlegende und autonom in der GGV geregelten Sanktionen als auch durch weitere, national geregelte Sanktionen und Maßnahmen erreicht (Tz. 56 + 57).
5. Für die Prüfung der räumlichen Reichweite der Zuständigkeit eines Gemeinschaftsgeschmackmustergerichts, bei dem eine Verletzungsklage nach Art. 81 GGV anhängig ist, und dessen internationale Zuständigkeit jedenfalls hinsichtlich eines Beklagten auf Art. 82 Abs. 1 GGV (Wohnsitz bzw. Niederlassung des Beklagten im Inland) und hinsichtlich des anderen Beklagten auf Art. 6 Nr. 1 EuGVVO a.F. i. V. m. Art. 79 Abs. 1 GGV beruht, stellt der EuGH fest, dass die Kognitionsbefugnis eines Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichts in diesem Fall nicht ausdrücklich in Art. 83 GGV geregelt ist. Nach Ansicht des EuGH ergibt sich weder aus dem Wortlaut des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO a.F. noch aus der zu dieser Vorschrift ergangenen Rechtsprechung, dass ein gemäß Art. 6 Nr. 1 EuGVVO a.F. rechtmäßig angerufenes Gericht für einen Beklagten, der nicht in dem Mitgliedstaat ansässig ist, im dem das Gericht seinen Sitz hat, nur beschränkt zuständig wäre (Tz. 63).
Die räumliche Zuständigkeit eines Gemeinschaftsgeschmackmustergerichts erstreckt sich nach Auffassung des EuGH in diesem Fall somit auch für den Beklagten auf die gesamte Europäische Union, der nicht in dem Mitgliedstaat ansässig ist, in dem das Gericht seinen Sitz hat (Tz 64).
6. Die Entscheidung des EuGH hat nicht nur Bedeutung für die Durchsetzung von Rechten aus einem Gemeinschaftsgeschmacksmuster, sondern unmittelbar auch für Unionsmarken. Er konstatiert, dass grundsätzlich die Anwendung nationalen Rechts der Anwendung von Art. 8 Abs. 1 EuGVVO nicht notwendigerweise entgegensteht, wenn die Kernfrage der Verletzungshandlung unionsweit identisch zu beurteilen ist. Dies würde andernfalls dem Zweck des Art. 8 Abs. 1 EuGVVO zuwiderlaufen, sich widersprechende Entscheidungen zu vermeiden.
7. Zur Frage des anwendbaren materiellen Rechts, die von der Frage der internationalen Zuständigkeit zu trennen ist, führt der EuGH in Tz. 93 aus, dass sowohl UMV als auch GGV hinsichtlich Sanktionen und Maßnahmen, die nicht unmittelbar in der jeweiligen Verordnung geregelt sind, auf das nationale Recht einschließlich des internationalen Privatrechts des angerufenen Gerichts verweisen (Art.129 UMV; Art. 88 GGV).
Da das internationale Privatrecht der EU-Mitgliedsstaaten mit Ausnahme des Königreichs Dänemark Kollisionsnormen für außervertragliche Schuldverhältnisse in Zivil- und Handelssachen einschließlich der Verpflichtung aus einer Verletzung von gemeinschaftsweit einheitlichen Rechten des geistigen Eigentums, durch die Rom II-Verordnung (VO (EG) Nr. 864/2007) vereinheitlicht wurde, ist die Verweisung, soweit sie das internationale Privatrecht betrifft, als Verweisung auf die Rom II-VO zu verstehen (Tz. 93).
8. Sinn und Zweck der Rom II-VO sei es, durch einheitliche Bestimmungen die Vorhersehbarkeit gerichtlicher Entscheidungen innerhalb der Europäischen Union zu verbessern und einen angemessenen Interessenausgleich zwischen Personen, deren Haftung geltend gemacht wird, und Geschädigten zu gewährleisten. Hierzu werde in der Verordnung als Grundprinzip auf die in Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO verankerte Regel abgestellt, wonach auf ein außervertragliches Schuldverhältnis das Recht desjenigen Staates anzuwenden ist, in dem der Schaden eintritt („lex loci damni“). Art. 8 Abs. 2 Rom II-VO stelle eine gegenüber der Grundregel vorrangige besondere Bestimmung für außervertragliche Schuldverhältnisse aus einer Verletzung von gemeinschaftsweit einheitlichen Rechten des geistigen Eigentums dar (Tz. 96). Gemäß Art. 8 Abs. 2 Rom II-VO ist in solchen Fällen auf Fragen, die nicht unter den einschlägigen Rechtsakt der Gemeinschaft fallen, das Recht des Staates anzuwenden, in dem die Verletzung begangen wurde.
9. Nach Ansicht des EuGH ist bei der Bestimmung des schadensbegründenden Ereignisses in Fällen, in denen demselben Beklagten verschiedene, in verschiedenen Mitgliedstaaten begangene Verletzungshandlungen eines gemeinschaftsweit einheitlichen Rechts des geistigen Eigentums zur Last gelegt werden, nicht auf jede einzelne ihm vorgeworfene Verletzungshandlung abzustellen, sondern es ist eine Gesamtwürdigung seines Verhaltens vorzunehmen, um den Ort zu bestimmen, an dem die ursprüngliche Verletzungshandlung, auf die das vorgeworfene Verhalten zurückgeht, begangen worden ist oder droht (Tz. 103).
Der EuGH begründet diese Auslegung von Art. 8 Rom II-VO damit, dass er nur hierdurch dem angerufenen Gericht ermöglicht werde, das anwendbare Recht anhand eines einheitlichen Anknüpfungskriteriums (Ort, an dem die Verletzungshandlung begangen worden ist oder droht, auf die mehrere einem Beklagten vorgeworfenen Handlungen zurückgehen) in Einklang mit Ziel und Zweck der Rom II-VO zu bringen ist (Tz. 104).
10. Eine Verletzung eines gemeinschaftsweit einheitlichen Rechts des geistigen Eigentums auf einer Website, die sich an Verbraucher in mehreren Mitgliedstaaten richtet, ist nach Auffassung des EuGH das schadensbegründenden Ereignis darin zu sehen, dass ein Wirtschaftsteilnehmer die beanstandeten Waren, insbesondere durch die Veröffentlichung eines Angebots auf seiner Website, zum Kauf anbietet. Der Ort des schadensbegründenden Ereignisses im Sinne von Art. 8 Abs. 2 Rom II-VO ist mithin der Ort, an dem der Prozess der Veröffentlichung des Angebots durch den Wirtschaftsteilnehmer auf seiner Website in Gang gesetzt worden ist (Tz. 107 + 108).
11. In der Praxis entfällt somit die Obliegenheit des Klägers, die Einzelheiten mitgliedsstaatlichen Rechts im Hinblick auf die Nebenansprüche bei Verletzung einer Unionsmarke bzw. Gemeinschaftsgeschmacksmusters durch aufwändige Rechtsgutachten vorzutragen, sofern die beanstandeten Verletzungshandlungen einen gemeinsamen Zusammenhang im Inland haben.
12. Die Entscheidung des EuGH hat unmittelbar Auswirkung auf die Zuständigkeit und das anwendbare Recht in Verletzungsverfahren auf Grundlage einer Unionsmarke oder eines Gemeinschaftsgeschmackmusters. Ob die nationalen Gerichte die vom EuGH aufgestellten Grundsätze auch auf Verfahren wegen der Verletzung des nationalen Teils eines Europäischen Patents anwenden, bleibt abzuwarten. Gegen eine solche Anwendung spricht, dass das Europäische Patent seinem Inhaber ab dem Tag der Bekanntmachung des Hinweises auf seine Erteilung im Europäischen Patentblatt (nur) die Rechte gewährt, die ihm ein in diesem Start erteiltes nationales Patent gewähren würde (Art. 64 Abs. 1 EPÜ). Mit Bekanntmachung des Hinweises auf seine Erteilung im Europäischen Patentblatt liegt somit kein unionsweit einheitliches Recht des geistigen Eigentums vor, so dass Art. 8 Abs. 2 Rom II-VO nicht einschlägig sein dürfte.
Die Frage einer Anwendbarkeit von Art. 6 Nr. 1 EuGVVO a.F. (jetzt: Art. 8 Nr. 1 EuGVVO) im Rahmen von Klagen in mehreren Vertragsstaaten wegen Verletzung eines in jedem dieser Staaten erteilten Europäischen Patents hat der EuGH bereits in der Entscheidung „Roche Nederland“ (GRUR 2007, 47) beantwortet. Danach ist jede dieser Klagen allein anhand des nationalen Rechts zu prüfen, das in dem Staat gilt, für das das Europäische Patent erteilt wurde. Etwaige abweichende Entscheidungen könnten nach Auffassung der EuGH nicht als einander widersprechend qualifiziert werden, sodass kein Zusammenhang im Sinne von Art. 6 Nr. 1 EuGVVO a.F. bestehe, der eine gemeinsame Entscheidung geboten erscheinen lasse, um sich widersprechende Entscheidungen mehrerer Gerichte zu vermeiden.