1. Das sog. Vorbenutzungsrecht schützt einen vor dem Anmelde- oder Prioritätstag eines Patents entstandenen Besitzstand im Verhältnis zum Patentinhaber. Dogmatisch ist das Vorbenutzungsrecht in die Kategorie der „Weiterbenutzungsrechte“ einzuordnen, das der Vorbenutzer dem Ausschließlichkeitsrecht des Patentinhabers entgegenhalten kann.
Schwierig zu beurteilen ist der sachliche Umfang eines einmal entstandenen Vorbenutzungsrechts. Der Vorbenutzer kann zweifelsfrei seinen Besitzstand in der Weise ausüben, wie er ihn zum Anmelde- oder Prioritätstag des Patents genutzt oder vorbereitet hat. Problematisch sind diejenigen Fälle, in denen das vorbenutzte Erzeugnis oder das vorbenutzte Verfahren über die Zeit weiterentwickelt werden, was in aller Regel wirtschaftlichen Bedürfnissen folgt.
Der BGH hat in jüngeren Jahren mehrfach zum Umfang des Vorbenutzungsrechts und zu Abweichungen gegenüber der ursprünglich benutzten Ausführungsform Stellung genommen. In seiner vor Kurzem ergangenen Entscheidung „Faserstoffbahn“ vom 20.06.2023 (Az. X ZR 61/21) präzisiert der BGH seine Rechtsprechung und geht auf die Frage ein, inwiefern ein Vorbenutzungsrecht die Benutzung des Gegenstands von Unteransprüchen umfassen kann.
2. Nach § 12 Abs. 1 S. 1 PatG tritt die Wirkung des Patents gegen denjenigen nicht ein, der zum Anmelde- bzw. Prioritätstag im Inland die Erfindung bereits in Benutzung genommen oder jedenfalls die dazu erforderlichen Veranstaltungen getroffen hat. Für das Gebrauchsmuster gilt diese Vorschrift über die Verweisungsnorm des § 13 Abs. 3 GebrMG. In Verfahren vor dem UPC gibt Art. 28 EPGÜ für deutsche Teile Europäischer Patente sowie für Einheitspatente in Bezug auf das Territorium Deutschlands die Geltung von § 12 PatG vor.
Gemäß § 12 Abs. 1 S. 2 PatG ist der Vorbenutzer befugt, die Erfindung für die Bedürfnisse seines eigenen Betriebs in eigenen oder fremden Werkstätten auszunutzen. Nähere Angaben zum sachlichen Umfang eines wirksam entstandenen Vorbenutzungsrechts enthält die gesetzliche Regelung nicht. Der Umfang des Vorbenutzungsrechts wird von den Instanzgerichten zu Lasten des Beklagten daher eher restriktiv gehandhabt.
3. Allgemeiner Grundsatz ist, dass der Vorbenutzer grundsätzlich auf die Nutzung desjenigen Besitzstands beschränkt ist, für den vor dem Anmelde- oder Prioritätstag sämtliche Voraussetzungen erfüllt waren. Weiterentwicklungen über den Umfang der bisherigen Benutzung hinaus sind ihm verwehrt, sofern sie in den Gegenstand der geschützten Erfindung eingreifen.
Daher sieht der BGH die Grenzen des Vorbenutzungsrechts als überschritten an, wenn bei der angegriffenen Ausführungsform erstmals alle Merkmale eines Patentanspruchs verwirklicht sind, während dies bei der vorbenutzten Ausführungsform wegen Fehlens eines dieser Merkmale noch nicht gegeben war (BGH GRUR 2002, 231, 234 – Biegevorrichtung). Eine solche Weiterentwicklung greife in den Gegenstand der durch das Patent geschützten Erfindung ein, wobei es unerheblich sei, ob das neu benutzte Merkmal naheliegend oder glatt selbstverständlich war (BGH GRUR a.a.O., S. 233).
Diese Rechtsprechung machten sich Patentinhaber zu Nutze, durch eine Kombination von Hauptansprüchen mit einem oder mehreren Unteransprüchen einen Gegenstand zu schaffen, den der Beklagte noch nicht vorbenutzt hatte, auch wenn er dem Hauptanspruch sein Vorbenutzungsrecht entgegenhalten konnte. Diese Vorgehensweise war meist erfolgreich mit dem Argument, dass erstmals die Merkmale des Unteranspruchs verwirklicht seien und damit die Weiterentwicklung in diesen geschützten Gegenstand eingreife.
4. In der Entscheidung „Faserstoffbahn“ setzt sich der BGH mit der Kombination von Unteransprüchen in den Klageanträgen eines Verletzungsverfahrens – hier im Rahmen einer Gebrauchsmusterstreitsache – auseinander.
Unter Verweise auf seine Entscheidung „Schutzverkleidung“ (GRUR 2018, 816) fasst der BGH zunächst die jüngere Rechtsprechung zusammen. Ein Eingriff in den Gegenstand des Schutzbereichs könne dann vorliegen, wenn der Vorbenutzer die Erfindungen in einem stärkeren Maße nutzt, als dies seinem Besitzstand entspricht, oder wenn er die Erfindung in anderer Weise nutzt als dies vor dem Anmelde- oder Prioritätstag der Fall war. Das Vorbenutzungsrecht dürfe aber nicht so eng gefasst werden, dass der Vorbenutzer davon keinen wirtschaftlichen sinnvollen Gebrauch machen könne, was die Anpassung und Fortentwicklung aufgrund wirtschaftlicher Bedürfnisse einschließt. Denn zwischen Anmelde- oder Prioritätstag und Verletzungsklage liegen häufig viele Jahre.
Ob nun eine andere Benutzungsform vorliegt als diejenige, die vom Besitzstand geschützt ist, sei am Maßstab der unter Berücksichtigung von Beschreibung und Zeichnung ausgelegten Schutzansprüche zu entscheiden. Veränderungen, die keinen Einfluss darauf haben, ob und in welcher Weise die technische Lehre verwirklicht wird, sind für das Vorbenutzungsrecht ohne Belang. Wird hingegen mindestens ein Merkmal des Anspruchs in technisch anderer Weise verwickelt, als dies vor dem Anmelde- oder Prioritätstag der Fall war, kann dies die Grenzen des Vorbenutzungsrechts überschreiten.
Allerdings sei auch in diesem Fall im Rahmen einer Gesamtwürdigung zu entscheiden. Es seien das Interesse des Vorbenutzers, den erworbenen Besitzstand wirtschaftlich sinnvoll nutzen zu können, und das Interesse Schutzrechtsinhabers, die Nutzung seines Schutzrechts nur dulden zu müssen, soweit die unter Schutz gestellte technische Lehre vom Vorbenutzer erkannt und umgesetzt worden ist, in einen angemessenen Ausgleich zu bringen. Die Grenzen des Vorbenutzungsrechts könnten dann überschritten sein, wenn mit der Modifikation ein zusätzlicher Vorteil verwirklicht wird.
Dies kommt insbesondere dann in Betracht, wenn erstmals ein Gegenstand benutzt wird, der in einem Unteranspruch oder in der Beschreibung wegen dieses zusätzlichen Vorteils hervorgehoben wird. Sind hingegen für ein Merkmal eines Anspruchs zwei vollständig gleichwertige Alternativen genannt, wird der Umstand, dass der Vorbenutzer nur eine dieser Alternativen zum Anmelde- oder Prioritätstag genutzt hat, regelmäßig keine entsprechende Beschränkung seiner Benutzungsbefugnis rechtfertigen. Ebenso sei zu würdigen, wenn in der Patentschrift eine Abweichung von der Vorbenutzung offenbart ist, bei der es sich um eine selbstverständliche Abwandlung handelt, die aus der Sicht des Fachmanns mit dem Erfindungsbesitz des Vorbenutzers ohne weiteres in Betracht zu ziehen ist.
5. In der Entscheidung „Faserstoffbahn“ erweitert der BGH nun das Vorbenutzungsrecht um die Modifikation eines vorbenutzten Gegenstands, wenn dieser Gegenstand zwar alle Merkmale eines unabhängigen Anspruchs verwirklicht, aber gleichwohl weitere, im Klageantrag aufgenommene Merkmale nicht aufweist.
Im zu entscheidenden Fall wurden eingeschränkte Schutzansprüche des Gebrauchsmusters durch Aufnahme von Merkmalen aus Unteransprüchen bzw. aus der geltend gemacht. Konkret ging es um saugfähige Faserstoffbahnen, die unter anderem in Slipeinlagen verwendet werden. In einem parallelen Löschungsverfahren wurde der Schutzanspruch durch Aufnahme zweier Unteransprüche beschränkt, wonach die Faserstoffbahnen einen Zusatz an Stoffen aufweist, wobei dieser Zusatz ein superabsorbierendes Polymer umfasst. Das vorbenutzte Produkt enthielt unstreitig keine superabsorbierenden Polymere.
Das Berufungsgericht lehnte mangels Erfindungsbesitz ein Vorbenutzungsrecht ab. Nach der Auffassung des BGH sei aber zu prüfen, ob mit der Modifikation ein zusätzlicher Vorteil verwirklicht werde oder ob es sich um eine vollständig gleichwertige Alternative oder eine selbstverständliche Abwandlung handele. Dies sei – entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts – auch dann von Bedeutung, wenn mit der Modifikation erstmals die zusätzlichen Merkmale des Unteranspruchs verwirklicht werden. Die Hervorhebung eines Merkmals eines Unteranspruchs kann zwar im Einzelfall dafür sprechen, dass es sich um einen relevanten zusätzlichen, also erfindungsgemäßen Vorteil handelt. Die bloße Aufnahme in einen Unteranspruch vermag die inhaltliche Prüfung aber nicht zu ersetzen, ob ein solcher Vorteil vorliegt oder ob es sich nur um eine vollständig gleichwertige Alternative oder eine selbstverständliche Abwandlung handelt. Wie bereits in der Entscheidung „Schutzverkleidung“ lässt der BGH aber offen, ob der Umfang des Vorbenutzungsrechts nicht nur selbstverständliche Abwandlungen umfasst, sondern auch solche Abwandlungen, die für den Fachmann mit dem Erfindungsbesitz des Vorbenutzers nahe lagen.
6. Der BGH macht deutlich, dass die sachliche Reichweite eine Vorbenutzungsrechts nicht schematisch danach zu beurteilen ist, ob zusätzliche Merkmale aus einem Unteranspruch oder aus der Beschreibung erstmals in einer Weiterentwicklung verwirklicht werden. Es ist stets zu prüfen, ob damit erstmals ein zusätzlicher Vorteil des Patents erzielt wird, der für den Fachmann nicht glatt selbstverständlich war. Der BGH hat die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufsgericht zurückverwiesen. Das Berufungsgericht muss nun klären, ob das Vorbenutzungsrecht die Modifikation gemäß dem Unteranspruch umfasst, weil damit entweder kein zusätzlicher Vorteil verbunden ist oder es sich um eine selbstverständliche, ohne Weiteres in Betracht zu ziehende Abwandlung handelt.