1. Nach Art. 3 Abs. 3 Design-RL gilt ein Muster, das bei einem Erzeugnis, das Bauelement eines komplexen Erzeugnisses ist, benutzt oder in dieses Erzeugnis eingefügt wird, nur dann als neu und hat nur dann Eigenart, wenn das Bauelement, das in das komplexe Erzeugnis eingefügt ist, bei dessen bestimmungsgemäßer Verwendung sichtbar bleibt und soweit diese sichtbaren Merkmale des Bauelements selbst die Voraussetzung der Neuheit und Eigenart erfüllen.
Ferner wird „bestimmungsgemäße Verwendung“ in Art. 3 Abs. 4 Design-RL definiert als die Verwendung durch den Endbenutzer, ausgenommen Maßnahmen der Instandhaltung, Wartung oder Reparatur.
Diese Vorgaben der Design-RL wurden in § 1 Nr. 4 und § 4 DesignG vom deutschen Gesetzgeber für nationale Designs umgesetzt und entsprechen Art. 4 Abs. 2 und 3 der Verordnung (EG) Nr. 6/2002 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster (GGV).
2. Dem Vorabentscheidungsersuchen des BGH ging ein Nichtigkeitsverfahren beim Deutschen Patent- und Markenamt (DPMA) gegen ein deutsches Design voraus, das mit einer einzigen Darstellung eingetragen die Unterseite eines Sattels wie nachfolgend eingelichtet zeigt. Die Erzeugnisangabe lautet „Sättel für Fahrräder oder Motorräder“ (Tz. 12).
(Abbildung im Newsletter dargestellt)
Das DPMA wies den Nichtigkeitsantrag zurück. Der Fahrradsattel sei ein „Bauelement eines komplexen Erzeugnisses“, das bei bestimmungsgemäßer Verwendung des komplexen Erzeugnisses (Fahrrad) sichtbar bleibe. Zur bestimmungsgemäßen Verwendung eines Fahrrads zähle auch „ein nicht der Instandhaltung, Wartung oder Reparatur dienendes Ab- und Aufmontieren des Sattels“ (Tz. 14).
In der Beschwerdeinstanz erklärte das Bundespatentgericht (BPatG) das angegriffene Design für nichtig. Zur Begründung führte es aus, dass ein Bauelement einem rechtlichen Designschutz nur zugänglich sei, wenn es nach Einbau in das komplexe Erzeugnis sichtbar bleibt. Hingegen könne ein Bauelement, dass erst bei Trennung von einem komplexen Erzeugnis sichtbar wird, keinen Schutz beanspruchen. Für die Beurteilung der Sichtbarkeit des Bauelements sei vorliegend auf die bestimmungsgemäße Verwendung des komplexen Erzeugnisses „Fahrrad“ abzustellen, was nur das Fahren mit dem Fahrrad sowie das Auf- und Absteigen umfasse. Im Rahmen dieser Verwendung sei die Sattelunterseite aber weder für den Endbenutzer noch für einen Dritten sichtbar (Tz. 15).
3. In der Rechtsbeschwerde legte der BGH dem EuGH im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEUV folgende Fragen vor (Tz. 31):
(1) Ist ein Bauelement, das ein Muster verkörpert, bereits dann „sichtbar“ im Sinne von Art. 3 Abs. 3 der Design-RL, wenn es objektiv möglich ist, das Design in eingebautem Zustand des Bauelements erkennen zu können, oder kommt es auf die Sichtbarkeit unter bestimmten Nutzungsbedingungen oder aus einer bestimmten Betrachterperspektive an?
(2) Wenn Frage 1 dahin zu beantworten ist, dass die Sichtbarkeit unter bestimmten Nutzungsbedingungen oder aus einer bestimmten Betrachterperspektive maßgeblich ist:
a) Kommt es für die Beurteilung der „bestimmungsgemäßen Verwendung“ eines komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer im Sinne von Art. 3 Abs. 3 und 4 der Design-RL auf den vom Hersteller des Bauelements oder des komplexen Erzeugnisses intendierten Verwendungszweck oder die übliche Verwendung des komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer an?
b) Nach welchen Kriterien ist zu beurteilen, ob die Verwendung eines komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer „bestimmungsgemäß“ im Sinne von Art. 3 Abs. 3 und 4 der Design-RL ist?
4. Der EuGH führt in seiner Entscheidung zunächst allgemein aus (Tz. 34), dass ein Fahrrad bzw. ein Motorrad für sich genommen ein komplexes Erzeugnis im Sinne von Art. 1 lit. c) Design-RL (@ §1 Nr. 3 DesignG bzw. Art. 3 lit. c GGV) darstelle und der Sattel ein Bauelement dieses komplexen Erzeugnisses sei. Ein Sattel lasse sich ersetzen, sodass das Fahrrad bzw. das Motorrad auseinander- und wieder zusammengebaut werden könne, und ohne den Sattel könne ein Fahrrad nicht bestimmungsgemäß verwendet werden.
Zur ersten Frage des BGH verweist der EuGH auf seine frühere Entscheidung „Front kit“ vom 28.10.2021 (C-123/20, wir berichteten in unserem Newsletter vom März 2022), in der er in Bezug auf Gemeinschaftsgeschmacksmuster bereits festgestellt hatte, dass die Erscheinungsform das entscheidende Merkmal eines Geschmacksmusters sei und die Tatsache, dass ein Merkmal eines Geschmacksmusters sichtbar sei, eine wesentliche Schutzvoraussetzung darstelle (Tz, 38). Zudem hatte er in der Entscheidung „Front kit“ konstatiert, dass ein Design, das in ein Erzeugnis eingefügt werde, das wiederum Bauelement eines komplexen Erzeugnisses sei, dieses Bauelement, um Schutz beanspruchen zu können, sichtbar und durch Merkmale abgegrenzt sein müsse, die seine besondere Erscheinungsform bildeten, d.h. durch Linien, Konturen, Farben, die Gestalt oder eine besondere Oberflächenstruktur. Dies setze voraus, dass die Erscheinungsform dieses Bauelements nicht vollständig in dem Gesamterzeugnis untergeht (Tz. 39).
Der EuGH führt weiter aus, Art. 3 Abs. 3 lit. a) der Design-RL setze zudem voraus, dass ein in ein komplexes Erzeugnis eingefügtes Bauelement, um schutzfähig zu sein, bei bestimmungsgemäßer Verwendung dieses Erzeugnis sichtbar bleibt. Ferner sei den Erwägungsgründen der Design-RL zu entnehmen, dass sich der Schutz weder auf Bauelemente erstrecken soll, die während der bestimmungsgemäßen Verwendung eines Erzeugnisses nicht sichtbar sind, noch auf Merkmale eines Bauelements die unsichtbar sind, wenn das Bauelement eingebaut ist, oder die selbst nicht die Voraussetzung der Neuheit oder Eigenart erfüllen (Tz. 41).
Vor diesem Hintergrund stellt der EuGH fest, dass eine abstrakte Beurteilung der Sichtbarkeit des in einem komplexen Erzeugnis eingefügten Bauelements ohne Bezug zu jedweder konkreten Situation der Verwendung dieses Erzeugnis nicht genüge, damit ein solches Bauelement Schutz genießt. Art. 3 Abs. 3 Design-RL verlange allerdings nicht, dass ein in ein komplexes Erzeugnis eingefügtes Bauelement zu jedem Zeitpunkt der Verwendung des komplexen Erzeugnisses vollständig sichtbar bleibt (Tz. 45).
5. Im Hinblick auf die zweite Frage des BGH führt der EuGH zunächst aus, dass die Sichtbarkeit eines in ein komplexes Erzeugnis eingefügten Bauelements nicht allein aus der Sicht des Endbenutzers dieses Erzeugnisses zu beurteilen sei. Insoweit sei auch die Sichtbarkeit eines solchen Bauelements für einen außenstehenden Beobachter zu berücksichtigen (Tz. 46). Ferner stelle Art. 3 Abs. 4 Design-RL klar, dass unter „bestimmungsgemäße Verwendung“ ausdrücklich Verwendungen durch den Endbenutzer ausgenommen seien, die unter Instandhaltung, Wartung oder Reparatur des komplexen Erzeugnisses fallen (Tz. 47).
Insofern sei zu klären, ob der Begriff der „bestimmungsgemäßen Verwendung“ eines Erzeugnisses durch den Endbenutzer (i) dem vom Hersteller oder Entwickler des Bauelements intendierten Verwendungszweck, (ii) den vom Hersteller oder Entwickler des komplexen Erzeugnisses intendierten Verwendungszweck oder (iii) der üblichen Verwendung des komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer entspricht (Tz. 48).
Der EuGH weist darauf hin, dass in der deutschen Sprachfassung von Art. 3 Abs. 3 und 4 Design-RL zwar als Kriterium für die Sichtbarkeit eines in ein komplexes Erzeugnis eingefügten Bauelements die „bestimmungsgemäße Verwendung“ genannt werde, in anderen Sprachfassungen der Design-RL aber auf eine „normale“ oder „übliche“ Verwendung des Erzeugnisses abgestellt werde, wie z.B. im Englischen („normal use“), im Französischen („utilisation normale“), im Italienischen („la normale utilizzazione“), im Spanischen („la utilización normal“) oder im Niederländischen („normaal gebruik“) (Tz. 50).
Vor diesem Hintergrund kommt der EuGH zu dem Schluss, dass der Unionsgesetzgeber auf die übliche Verwendung des komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer abstellen wollte, um eine Verwendung dieses Erzeugnisses auf anderen Handelsstufen auszuschließen und auf diese Weise einer Umgehung der Sichtbarkeitserfordernisses vorzubeugen. Die Beurteilung der „bestimmungsgemäßen Verwendung“ eines komplexen Erzeugnisses könne daher nicht allein auf die Absicht des Herstellers des Bauelements oder des komplexen Erzeugnisses gestützt werden (Tz. 52).
6. Im Hinblick auf die Frage, welche Verwendung eines komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer eine „bestimmungsgemäße Verwendung“ im Sinne von Art. 3 Abs. 4 Design-RL darstellt, spricht sich der EuGH für eine weite Auslegung dieses Begriffs aus (Tz. 53). Die Verwendung eines Erzeugnisses gemäß seiner Hauptfunktion erfordere in der Praxis oftmals verschiedene Handlungen, die vorgenommen werden, bevor oder nachdem das Erzeugnis diese Hauptfunktion erfüllt hat, wie etwa die Aufbewahrung oder den Transport des Erzeugnisses. Folglich sei davon auszugehen, dass die „bestimmungsgemäße Verwendung“ eines komplexen Erzeugnisses alle diese Handlungen umfasst, mit Ausnahme derjenigen, die in Art. 3 Abs. 4 Design-RL ausdrücklich ausgenommen sind, nämlich Handlungen die mit Instandhaltung, Wartung oder Reparatur zusammenhängen (Tz. 54).
Somit umfasse eine „bestimmungsgemäße Verwendung“ Handlungen, die mit der üblichen Verwendung eines Erzeugnisses zusammenhängen, sowie weitere Handlungen, die anlässlich einer solchen Verwendung vernünftigerweise vorgenommen werden können und aus Sicht des Endbenutzers üblich sind, einschließlich der Handlungen, die vorgenommen werden können, bevor oder nachdem das Erzeugnis seine Hauptfunktion erfüllt hat (Tz. 55).
7. Vor diesem Hintergrund beantwortet der EuGH die vom BGH gestellte Fragen wie folgt (Tz. 56):
Art. 3 Abs. 3 und 4 Design-RL ist dahin auszulegen, dass
das Erfordernis der „Sichtbarkeit“, das nach dieser Vorschrift erfüllt sein muss, damit ein Muster, das bei einem Erzeugnis, das Bauelement eines komplexen Erzeugnisses ist, benutzt oder in dieses Erzeugnis eingefügt wird, rechtlichen Musterschutz genießen kann, im Hinblick auf eine Situation der normalen Verwendung dieses komplexen Erzeugnisses zu prüfen ist, wobei es darauf ankommt, dass das betreffende Bauelement nach seiner Einfügung in dieses Erzeugnis bei einer solchen Verwendung sichtbar bleibt.
Zu diesem Zweck ist die Sichtbarkeit eines Bauelements eines komplexen Erzeugnisses bei seiner „bestimmungsgemäßen Verwendung“ durch den Endbenutzer aus der Sicht dieses Benutzers sowie der Sicht eines außenstehenden Beobachters zu beurteilen, wobei diese bestimmungsgemäße Verwendung die Handlungen, die bei der hauptsächlichen Verwendung eines komplexen Erzeugnisses vorgenommen werden, sowie die Handlungen, die der Endbenutzer im Rahmer einer solchen Verwendung üblicherweise vorzunehmen hat, umfassen muss, mit Ausnahme von Instandhaltung, Wartung und Reparatur.
8. Der EuGH erteilt der vom BPatG angenommenen, engen Auslegung des Begriffs „bestimmungsgemäße Verwendung“ eine Absage. Es bleibt dennoch abzuwarten, wie der BGH im konkreten Fall entscheiden wird. Dies wird maßgeblich davon abhängen, ob der BGH die Sichtbarkeit der Sattelunterseite eines Fahrrads im Rahmen von Handlungen bestätigt, die anlässlich des Fahrens als Hauptfunktion vernünftigerweise vorgenommen werden könnten, wie etwa das Hochheben des Fahrrads zum Zwecke der Aufbewahrung oder des Transports.