Wie bereits in unserem Newsletter vom Juli 2021 berichtet, hat das BVerwG nach der mündlichen Verhandlung vom 20.05.2021 dem EuGH vier Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
II. Sachverhalt
Gegenstand des Verfahrens ist ein Feststellungsbescheid des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte gem. § 21 Abs. 4 AMG aus dem Jahr 2013, wonach das von der Klägerin als Medizinprodukt in Verkehr gebrachte Nasenspray ein zulassungspflichtiges Arzneimittel sein soll.
Das BfArM hat das streitgegenständliche Präparat als Präsentationsarzneimittel im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG angesehen und somit dem Arzneimittelregime unterstellt.
Die hiergegen erhobene Klage ist sowohl vor dem Verwaltungsgericht Köln als auch dem OVG NRW erfolglos geblieben, mit der Begründung, dass der Begriff des Präsentationsarzneimittels nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG auch dann Anwendung finde, wenn das fragliche Erzeugnis als stoffliches Medizinprodukt nach § 3 Abs. 1 a) MPG auf den Markt gebracht wird.
Arzneimittel und Medizinprodukte besitzen bekanntlich definitionsgemäß eine gleiche Zweckbestimmung. Beide dienen dem Ziel der Erkennung, Verhütung, Überwachung, Behandlung oder Linderung von Krankheiten. § 2 AMG definiert die Arzneimittel und unterscheidet Präsentationsarzneimittel gem. Abs. 1 Nr. 1 AMG und Funktionsarzneimittel gem. Abs. 1 Nr. 2 a) AMG sowie Diagnostika gem. Abs. 1 Nr. 2 b) AMG.
Ebenfalls relevant ist Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83, die sogenannte Zweifelsfallregelung. Danach soll in sogenannten Zweifelsfällen, in denen ein Erzeugnis sowohl unter die Definition des Begriffs Arzneimittels als auch unter die Definition eines anderen Erzeugnisses fallen kann das Arzneimittelregime Anwendung finden.
III. Die Entscheidung des EuGH
Der EuGH hat mit der 4. Vorlagefrage begonnen und in Rz. 35 festgestellt, dass Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83 dahin auszulegen ist, dass er sowohl auf Funktionsarzneimittel als auch auf Präsentationsarzneimittel Anwendung findet.
Begründet hat der EuGH dies einerseits mit dem Wortlautargument. Der Text von Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2001/38, der ausdrücklich auf „Arzneimittel“ Bezug nimmt, lasse nicht zu, zwischen den beiden in Art. 1 Nr. 2 a) bzw. b) der Richtlinie festgelegten Definitionen des Begriffs „Arzneimittel“ zu unterscheiden, ohne dass dies gegen den Wortlaut selbst verstoßen würde.
Ferner wäre ein Ausschluss der Präsentationsarzneimittel vom Anwendungsvorrang der für Arzneimittel geltenden rechtlichen Regelung nicht mit dem vom Gesetzgeber zum Ausdruck gebrachten Willen vereinbar, mittels der in Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83 vorgesehenen Verpflichtung die Gebote der Rechtssicherheit für die Wirtschaftsbeteiligten mit den Anforderungen an Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit von Humanarzneimitteln in Einklang zu bringen.
Sodann hat der EuGH die 2. und 3. Frage zusammen beantwortet. Zum einen hat er festgestellt, dass beim Fehlen wissenschaftlicher Erkenntnisse über die bestimmungsgemäße Hauptwirkung eines Produktes dieses Erzeugnis weder als Medizinprodukt gem. Art. 1 Abs. 2 a) der Richtlinie 93/42 (Rz. 41) noch als Funktionsarzneimittel gem. Art. 1 Nr. 2 b) der Richtlinie 2001/83 (Rn. 44) eingestuft werden kann.
Weitergehend ist der EuGH dann der Auffassung, dass ein Erzeugnis, welches aufgrund seiner Präsentation „als Mittel mit Eigenschaften zur Heilung oder zur Verhütung bestimmt ist“ – was die Definition des Präsentationsarzneimittels ist – beim durchschnittlich informierten Verbraucher den Eindruck erwecke, dass dieses Erzeugnis in Anbetracht seiner Aufmachung die betreffenden Eigenschaften haben müsse. Dies lässt aber außer Betracht, dass die Definition des Medizinproduktes sich insoweit nur marginal unterscheidet zur „Erkennung, Verhütung, Behandlung oder Linderung von Krankheiten.“
Dann führt der EuGH weiter aus, dass insoweit der Einstellung eines durchschnittlich informierten Verbrauchers Rechnung zu tragen sei, bei dem die einem Erzeugnis gegebene Form ein besonderes Vertrauen hervorrufen könne, wie dasjenige, dass Arzneimittel aufgrund der Garantien, die mit ihrer Herstellung und ihrer Vermarktung verbunden seien, normalerweise hervorriefen (Rz. 45-47).
Hierzu hat der EuGH noch festgestellt, dass der Hersteller, der ein Produkt als Medizinprodukt vertreiben möchte, gem. den Art. 3 und 4 der Richtlinie 93/42 die Erfüllung dieser Voraussetzungen nachweisen müsse (Rn. 38), denn die Richtlinie 93/42 sähe nicht das gleiche Verbraucherschutzniveau vor, wie die Richtlinie 2001/83. Diese Abweichung im Schutzniveau sei durch die negative Voraussetzung für Medizinprodukte gem. Art. 1 Abs. 2 a) der Richtlinie 93/42 gerechtfertigt, wonach die bestimmungsgemäße Hauptwirkung weder durch pharmakologische oder immunologische Mittel noch metabolisch erreicht wird. Die Vermutung der geringeren Gefährlichkeit dieser Erzeugnisse rechtfertige das Inverkehrbringen von Waren auf deklaratorischer Grundlage, im Gegensatz zur rechtlichen Regelung, die für Funktions- oder Präsentationsarzneimittel gelte, für deren Inverkehrbringen nach Art. 6 der Richtlinie 2001/83 die vorherige Erteilung einer Genehmigung erforderlich ist (Rz. 39).
Völlig außer Acht gelassen hat der EuGH in dieser Entscheidung die Tatsache, dass Arzneimittel und Medizinprodukte eine identische Zweckbestimmung aufweisen und sich damit gleichermaßen zur Heilung, Behandlung und Vorbeugung von Krankheiten präsentieren. Einziger Unterschied zwischen beiden Produktklassen ist die Art und Weise der Wirkung des Produktes – einerseits pharmakologisch; andererseits physikalisch. Dabei hat der EuGH in seiner Entscheidung zwar den Erwägungsgrund 7 der Änderungsrichtlinie 2004/27/EG bzgl. sogenannter „Grenzprodukte“ in Rz. 30 behandelt, die entscheidende Passage aber völlig außen vorgelassen. Der zitierten Passage im EuGH-Urteil folgt ein entscheidender weiterer Satz, den das Gericht ignoriert hat:
„…damit zum Einen das Entstehen neuer Therapien und zum Anderen die steigende Zahl von sog. „Grenzprodukten“ zwischen dem Arzneimittelbereich und anderen Bereichen Berücksichtigung finden, sollte die Begriffsbestimmung des Arzneimittels geändert werden, um zu vermeiden, dass Zweifel an den anzuwendenden Rechtsvorschriften auftreten, wenn ein Produkt, dass vollständig von der Definition des Arzneimittels erfasst wird, möglicherweise auch unter die Definition anderer regulierter Produkte fällt. Diese Definition sollte die Art der Wirkung, die das Arzneimittel auf die physiologischen Funktionen haben kann, spezifizieren. Diese Aufzählung der Wirkungen ermöglicht auch, Arzneimittel wie Gentherapie, Radiopharmaka sowie bestimmte Arzneimittel zur lokalen Verwendung abzudecken…“.
In Anbetracht der praktisch identischen Zweckbestimmung ist es vor diesem Hintergrund äußerst bedauerlich, dass sich der EuGH hier nicht mit der ersten vom vorlegenden Gericht aufgeworfenen Frage zur Spezifizierung des Arzneimittelbegriffs auseinandergesetzt hat und statt dessen rein mit dem Wortlautargument der Zweifelsfallregelung und unter Missachtung der identischen Zweckbestimmung den Präsentationsarzneimittelbegriff für Medizinprodukte als anwendbar angesehen hat.
Damit hat der EuGH die eigentlich entscheidenden Fragen umschifft – nämlich wie sich Arzneimittel und Medizinprodukte anhand ihrer Präsentation unterscheiden sollen (wenn nicht über das CE-Zeichen und die produktklassetypische Kennzeichnung) und dies dem vorlegenden Gericht zurückgegeben mit dem Hinweis auf Merkmale, wie den Apothekenvertrieb, der ebenfalls nicht zur Unterscheidung geeignet ist. Ebenfalls umschifft hat der EuGH eine dringend nötige Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbegriffs der pharmakologischen Wirkung, was sowohl zur Unterscheidung von Grenzprodukten der Klasse der Arzneimittel und Medizinprodukte als auch im Sinne einer EU-weiten Harmonisierung mehr als wünschenswert gewesen wäre (aber vielleicht ist es nach dieser Entscheidung auch besser so).
Mit dieser Entscheidung können die nationalen Aufsichtsbehörden pauschal das Vorliegen einer pharmakologischen Wirkung behaupten, während der Medizinproduktehersteller verpflichtet ist, dass Nichtvorhandensein einer pharmakologischen Wirkung zu beweisen. Wenigstens wäre hilfreich gewesen, eine klare Definition der pharmakologischen Wirkung zur Abgrenzung der beiden Produktklassen vorzunehmen, anstelle die Vorlagefrage 1 einfach offen zu lassen.
Der EuGH hat allein anhand des Wortlautarguments der Zweifelsfallregelung und im Sinne des Vorsorgeprinzips die Unterstellung des stofflichen Medizinproduktes unter die Präsentationsarzneimitteleigenschaft bejaht. Ob sich das als Medizinprodukt in Verkehr gebrachte Erzeugnis aufgrund der Präsentation zur Heilung oder Linderung einer Krankheit, der Bezugnahme auf Wechselwirkungen mit Arzneimittel und auf unerwünschte Wirkungen, sowie hinsichtlich einer etwaigen Apothekenexklusivität in der Gesamtheit als Arzneimittel präsentiert, müsse dann wieder vom vorlegenden Gericht geprüft werden.
Das BVerwG hat vorliegend bereits zutreffend in der Vorlagefrage darauf hingewiesen, dass sich ein Produkt, das eine medizinische Zweckbestimmung hat und die CE-Kennzeichnung trägt sich als der Produktgruppe der Medizinprodukte zugehörig präsentiert.
Mit dieser Entscheidung hat es sich der EuGH bedauerlicherweise zu einfach gemacht und insbesondere die Chance vertan, den unbestimmten Rechtsbegriff der pharmakologischen Wirkung zu konkretisieren.
IV.
Wie das vorlegende BVerwG zutreffend festgestellt hat, präsentiert sich ein mit CE-Kennzeichen versehenes Produkt, dass mit der Zweckbestimmung zur Heilung und Vorbeugung von Krankheiten in Verkehr gebracht wird, dem angesprochenen Verbraucher nicht als Arzneimittel. Auf dem deutschen Markt werden Medizinprodukte und Arzneimittel gleichermaßen in Apotheken vertrieben, sodass auch dieses Merkmal nicht zur Einordnung als Präsentationsarzneimittel geeignet ist. Dementsprechend kann ein gemäß den Vorgaben des Medizinprodukteregimes präsentiertes Produkt eigentlich nicht als Präsentationsarzneimittel angesehen werden.
Solange ein Hersteller damit nicht einen von der in Deutschland zuständigen Bundesbehörde akzeptierten Beweis einer nicht pharmakologischen Hauptwirkung vorweisen kann, hat er sich der pauschalen Einschätzung der zuständigen Behörde zu beugen, wenn wissenschaftlich keine eindeutige Feststellung möglich ist, der sich die Behörde anschließt und einen Antrag auf Zulassung als Arzneimittel zu stellen, oder auf das Inverkehrbringen zu verzichten.
Es bleibt zu hoffen, dass der EuGH noch einmal Gelegenheit erhält, seine Meinung zu revidieren. Zum anderen ist zu hoffen, dass die Rechtsprechung zukünftig der MDR einen höheren Grad an Rechts- und Produktsicherheit zumisst und die Rolle der Benannten Stellen als wissenschaftliche Kapazität anerkennt – schließlich hat der Gesetzgeber ausdrücklich die Produktgruppe der Medizinprodukte aus dem Arzneimittelregime herausgenommen und einem eigenen Regelungsregime unterstellt.