Gegenstand des Rechtsstreits war die Entscheidung der Europäischen Arzneimittelagentur („EMA“), einen Antrag der Firma Shire Pharmaceuticals Ireland („Shire“) auf Ausweisung eines Arzneimittels für seltene Leiden nicht zu validieren, welches denselben Wirkstoff (Idursulfase) wie ein bereits zugelassenes Orphan-Produkt von Shire aufweist und dessen Orphan-Status für dasselbe Anwendungsgebiet beantragt wurde.
Shire machte geltend, dass es sich bei dem fraglichen Produkt um ein anderes Arzneimittel als das bereits zugelassene handele, da sich dieses in Bezug auf Zusammensetzung, Verabreichungsweg und therapeutische Wirkung unterscheiden würde. Sofern dieses Arzneimittel sodann als Orphan-Produkt auch zugelassen würde, würde auf Basis dieser Position das neue Arzneimittel von einem eigenständigen Marktexklusivitätsrecht nach Artikel 8(1) der Verordnung 141/2000 („Orphan Verordnung“) geschützt sein, wonach es den Zulassungsbehörden untersagt ist, für die Dauer von 10 Jahre ab Zulassungserteilung für ähnliche Arzneimittel in demselben Anwendungsgebiet Zulassungsanträge anzunehmen oder diese zuzulassen (sog. „Orphan Marktexklusivitätsrecht“).
Die EMA vertritt seit jeher die Auffassung, dass ein Unternehmen für ein und denselben Wirkstoff nur für unterschiedliche Erkrankungen einen eigenständigen Orphan-Status erhalten kann, dies in derselben Erkrankung hingegen nicht möglich sei. Die Konsequenz dieser Position ist, dass das 10-jährige Orphan Marktexklusivitätsrecht für beide Produkte mit der ersten Zulassung des Wirkstoffes zu laufen beginnt und die nachfolgende Zulassung des zweiten Arzneimittels mangels eigenständigem Orphan-Status kein eigenes 10-jähriges Schutzrecht genießen würde.
Der EuGH hat vorliegend dem erstinstanzlichen Europäischen Gericht zugestimmt, wonach für neue Arzneimittel, selbst wenn sie den gleichen Wirkstoff wie bestehende Arzneimittel für seltene Leiden enthalten und der Orphan-Status für dasselbe Anwendungsgebiet beantragt wird, die Möglichkeit einer eigenständigen Ausweisung als Arzneimittel für seltene Leiden und damit eines eigenständigen 10-jährigen Orphan Marktexklusivitätsrechts bestehen soll, wenn sie bei Zulassungserteilung die Kriterien für die Ausweisung als seltene Arzneimittel gemäß Artikel 3(1) der Verordnung 141/2000 erfüllen, d.h. wenn sie im Vergleich zu dem bereits zugelassenen Arzneimittel einen erheblichen Nutzen aufweisen.
Artikel 5 (1) der Orphan Verordnung verpflichtet die EMA zwar zu prüfen, ob ein Antrag auf Ausweisung als Arzneimittel für seltene Leiden bereits Gegenstand eines früheren Antrags auf Genehmigung für das Inverkehrbringen ist. Artikel 5(2) der Orphan Verordnung enthält eine Liste der Dokumente, die mit dem Antrag auf Ausweisung als Arzneimittel für seltene Leiden einzureichen sind. Liegen diese in Artikel 5 (2) genannten Dokumente vor, muss nach dem EuGH die EMA den Antrag auf Ausweisung als Arzneimittel für seltene Leiden validieren, sofern dieses Arzneimittel nicht mit dem bereits als Orphan-Produkt ausgewiesenen Arzneimittel identisch ist. Es ist sodann die Angelegenheit des Ausschusses für Arzneimittel für seltene Leiden (engl. „Committee for Orphan Medicinal Products“ – COMP) zu beurteilen, ob das neue (zweite) Produkt die in Artikel 3(1) der Orphan Verordnung aufgestellten Kriterien für eine Ausweisung als Arzneimittel für seltene Leiden, insbesondere den erheblichen Nutzen, auch tatsächlich erfüllt.
Bezüglich der Frage, nach welchen Kriterien sich die (Nicht-)Identität der Produkte beurteilt, hat der EuGH keine allgemeinen Kriterien vorgegeben, sondern schlicht in Randnummer 40 ausgeführt, dass auf Basis der geltend gemachten Unterschiede in der Zusammensetzung, dem Verabreichungsweg und der therapeutischen Wirkungen das zweite Produkt nicht das gleiche wie das erste ist. Daher ist davon auszugehen, dass dies eine Frage des jeweiligen Einzelfalls bleiben wird.
Insgesamt ist dieses Urteil des EuGH für die forschende Industrie von großer Bedeutung, da die Möglichkeit bekräftigt wird, auch dann einen eigenständigen Orphan-Status mit einem erneuten Orphan Marktexklusivitätsrecht zu erhalten, wenn das neue Produkt die Weiterentwicklung eines bereits zugelassenen Produktes mit demselben Wirkstoff für dieselbe Erkrankung darstellt, sofern dies einen erheblichen Nutzen aufweist.