Der für die Neuheitsprüfung relevante Stand der Technik ist der Wissensbestand, der vor dem Anmeldtag einer Patentanmeldung, durch Benutzung oder in sonstiger Weise der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist (Artikel 54 EPÜ). Dieser Zeitrang lässt sich um ein Jahr in die Vergangenheit verlegen, wenn der Anmeldung eine Erstanmeldung vorrausgeht, deren Priorität wirksam beansprucht werden kann. Für das Europäische Patent ist dieser Mechanismus in den Artikeln 87 ff. EPÜ geregelt. Danach kann grundsätzlich binnen eines Jahres nach der Erstanmeldung, bzw. Prio-Anmeldung, deren Anmeldtag für eine europäische Patentanmeldungen beansprucht werden. Der Anmelder wird dadurch vor schädlichem Stand der Technik geschützt, der zwischen den Anmeldetagen der Prio-Anmeldung und der europäischen Folgeanmeldung zugänglich gemacht wird.
Das Prioritätsrecht muss nach Artikel 88(1) EPÜ aktiv und vor allem ordnungsgemäß beansprucht werden. Werden Fehler gemacht, treten die prioritätsbegründenden Wirkungen nicht ein. Das kann bei der späteren Durchsetzung verheerende Folgen haben. Wenn also der Erstanmelder und der Nachanmelder nicht identisch sind, stellt sich die Frage, ob der Zeitrang zum Beispiel einer US Priorität ordnungsgemäß beansprucht worden ist. Gerade bei US-Prioritäten sind Erstanmelder und Nachmelder oft nicht identisch. Nach früherem US-Recht musste eine US Patentanmeldung stets von dem oder den Erfinder(n) getätigt werden, auch wenn die Rechte an der Erfindung eigentlich einem Dritten wie dem Arbeitgeber zustande. Die Übertragung des Prioritätsrechts setzt voraus, dass die Übertragung innerhalb des Prioritätsjahrs erfolgt. In der vor kurzem veröffentlichten Leitsatzentscheidung des BGH vom 4. September 2018 „Drahtloses Kommunikationsnetz“ ist diese Frage erneut behandelt worden.
Die Entstehung des Prioritätsrechts erwächst aus der Anmelderstellung. Davon geht zumindest das EPÜ aus. Derjenige der die Erstanmeldung tätigt, erlangt somit auch das Prioritätsrecht, das nach geltendem Recht (Artikel 87 EPÜ) durch Rechtsgeschäft übertragen werden kann. Zumindest nach deutschem Recht müssen der Inhaber der Erstanmeldung und der prioritätsberechtigte Nachanmelder nicht identisch sein. Das Prioritätsrecht kann also isoliert als Vermögenswert, ohne dass sich an der Inhaberschaft der Erstanmeldung etwas ändert, auf Dritte übertagen werden. Die inhaltlichen Anforderungen, die an die Übertragung bzw. Übertragbarkeit des Prioritätsrechts zu stellen sind, können allerdings je nach anwendbarem Recht unterschiedlich ausfallen. Bei grenzüberschreitenden Sachverhalten muss daher stets an erster Stelle geprüft werden, welchem nationalen Recht der zu beurteilende Sachverhalt zu unterwerfen ist.
Für den Rechtsanwender stellt sich zunächst die Frage, nach welchem Recht die Übertragung des Prioritätsrechts zu behandeln ist. Hierzu vertritt der BGH in der Entscheidung „Fahrzeugscheibe“ (BGH, GRUR 2013, 712) noch die Ansicht, dass auf Recht des Staates der Erstanmeldung abzustellen sei. In der Entscheidung BGH „Drahtloses Kommunikationsnetz“ vom 4. September 2018 (X ZR 14/17) wird diese Ansatz zwar nicht ganz aufgegeben, dennoch dahingehend relativiert, dass der Anknüpfungspunkt des Staates der Erstanmeldung zwar für die „Übertragbarkeit und insoweit geltende Form- und andere Wirksamkeitsvorschriften“ gilt, dennoch zumindest das Verpflichtungsgeschäft nach dem jeweiligen Vertragsstatuts, mithin nach dem Arbeitsstatut bei Arbeitnehmer-Arbeitgeberverhältnissen zu beurteilen ist. Der BGH scheint sogar „geneigt“ sein, auch das Verfügungsgeschäft dem Vertragsstatut zur unterwerfen. Damit scheint sich der BGH der Rechtsprechung der Beschwerdekammer (T205/14 EPA) angenähert zu haben. In T205/14 EPA wird auf das Vertragsstatut abgestellt.
Die wirksame Inanspruchnahme des Proprietätsrechts setzt voraus, dass die Übertragung des Prioritätsrechts innerhalb des Prioritätsjahrs erfolgt ist. Die Übertragung ist denknotwenig nur möglich ab dem Zeitpunkt der Entstehung des Prioritätsrechts, also dem Zeitpunkt der Anmeldung der Erstanmeldung. Vor diesem Zeitpunkt gibt es noch kein existentes Prioritätsrecht, das einer Übertragung zugänglich gemacht werden könnte. Anderseits erlischt es unwiederbringlich mit dem Ende des Prioritätsjahrs und kann einer Übertragung nicht mehr zugänglich gemacht werde. Eine bei Inanspruchnahme der Priorität fehlende Berechtigung kann also nach Ablauf des Prioritätsjahrs nicht etwa durch eine Vereinbarung „rückwirkend hergestellt“ werden. Zwar kann die Prioritätserklärung laut den EPÜ Vorschriften auch nach diesem Zeitpunkt, also innerhalb von 16 Monaten nach der (frühsten) Erstanmeldung abgegeben werden. Diese Frist betrifft allerdings nur den formellen Vorgang der Inanspruchnahme, nicht aber die materielle rechtliche Frage einer wirksamen Übertragung des Prioritätsrechts und des Vorhandenseins der Berechtigung an dem Prioritätsrecht. Das Prioritätsjahr ist der Zeitraum, in dem die Übertragung des Prioritätsrechts erfolgt sein muss. Deshalb wird eine nach dem Anmeldetag der Nachanmeldung erfolgte Übertragung, nur dann noch für eine wirksame Prioritäts-Inanspruchnahme zu Grunde gelegt werden können, wenn die Übertragung noch im laufenden Prioritätsjahr erfolgt ist. Hierzu ist allerdings darauf hinzuweisen, dass die ganz überwiegende Ansicht davon ausgeht, dass die Übertragung vor Einreichung der Nachanmeldung schon vorgenommen sein muss. Vorsorglich sollte stets darauf hingewirkt werden, dass eine schriftliche Übertragung noch vor dem Anmeldetag der Nachanmeldung unterzeichnet und datiert vorhanden ist.
Das Prioritätsrecht muss vom Patentinhaber nachgewiesen werden, sollte es im Laufe des Bestandverfahrens auf die Priorität ankommen, also wenn im Prioritätsintervall relevanter Stand der Technik festgestellt wird. Diese Obliegenheit ist nach allgemeinen Grundsätzen des Verfahrensrechts dem Patentinhaber aufzuerlegen. Der BGH hält in „Drahtloses Kommunikationsnetz“ daran fest, dass der Übertragungsvertrag durch den Patentinhaber nachgewiesen werden muss. Der dieser Entscheidung zugrundeliegende Sachverhalt betraf die Übertragung des Prioritätsrechts von einem Arbeitnehmer auf den Arbeitnehmer mit anschließender Übertragung auf ein drittes Unternehmen. Die Anforderungen an den Nachweis für das Zustandekommen der Übertragungsverträge scheinen in dem dort diskutierten Sachverhalt zugunsten des Patentinhabers niedrig angesetzt worden zu sein. So wurde bereits der Hinweis auf eine US-Voranmeldung, als rechtsgeschäftliches Angebot auf Übertragung des Prioritätsrechts angesehen. Besinnt man sich auf die für Willenserklärungen geltenden Grundsätze des BGBs, die voraussetzen, dass in der Offerte der Wille zu einer rechtlichen Bindung zum Tragen kommen muss, dürften den BGH vor allem die arbeitsnehmerrechtlichen Gesamtumstände und besondere Interessenlage zwischen Beteiligten bewogen haben, eine erfolgte Übertragung anzunehmen. Allein der Hinweis auf eine US-Voranmeldung ist nichts anderes als eine Wissensmitteilung. Sie kann einen Rechtsbindungswillen noch nicht ausreichend zum Ausdruck bringen. Entscheidend waren daher die Gesamtumstände und Interessen der Beteiligten.
Auch wenn die Rechtsprechung im oben besprochenen Fall die Hürden für den Nachweis sehr niedrig ansetzt, ist es ratsam, der vertraglichen Seite bei der Übertragung der Priorität große Bedeutung beizumessen. Allein die Gefahr, einen im Nachhinein irreparablen Fehler zu verursachen und deshalb bei der späteren Durchsetzung zu unterliegen, ist Grund genug für eine sorgfältige Handhabung. Viele europäische Patente leiden unter irreparablen, oft unerkannten Defekten, die nicht rückwirkend repariert werden können. Betroffen sind vor allem europäische Patente, die sich aus PCT-Anmeldungen mit US Priorität ergeben, die im Namen einer juristischen Person eingereicht worden sind, wohingegen die prioritätsbegründende Erstanmeldung von dem oder den Erfindern, etwa den Arbeitnehmern des Nachanmelders angemeldet wurde. Wird ein Prioritätsanspruch aus einer US-Voranmeldung geltend gemacht, ist oft die US-Voranmeldung von den Erfindern eingereicht worden, was zumindest nach älterem US-Recht erforderlich war. So muss das Recht, die Priorität aus der US-Erstanmeldung in Anspruch zu nehmen, von den Erfindern rechtzeitig und ordnungsgemäß an die Gesellschaft übertragen worden sein, was oft nicht geschehen ist. In solchen Fällen wird in den meisten Fällen US Recht Anwendung finden. Wenn also die Übertragung der Erfinderrechte vom Arbeitnehmer auf den Arbeitgeber stattfindet, ist besondere Sorgfalt geboten, wobei Europäische Besonderheiten auch dem US-Anmelder geläufig sein müssen. Oft mag zwar eine unter US-Recht fallende arbeitsrechtliche Vereinbarung dahingehend auszulegen sein, dass der Arbeitnehmer sämtliche Rechte an der Erfindung auf seinen Arbeitgeber abzutreten hat. Das muss nicht automatisch erfolgt sein und mag gegebenenfalls spezielle Individualvereinbarungen voraussetzen, nachdem die Erfindung gemacht wurde. In der Praxis kommt es im Übrigen oft vor, dass derartige Vereinbarungen unklar sind und sich oft nur auf die US-Situation beziehen. Damit ist Tür und Tor für eine Infragestellung der Priorität eröffnet.