Im Februar 2004 wurde ein Treosulfan-haltiges Arzneimittel zur Konditionierungstherapie vor einer allogenen hämatophoetischen Stammzelltransplantation als Arzneimittel für seltene Leiden ausgewiesen und in das Register für seltene Leiden eingetragen (sog. Orphan Drug Status).
Mit Beschluss vom 20.06.2019 erfolgte durch die Kommission die Zulassung von Treosulfan (Trecondi®) mit dieser Indikation, ohne jedoch den Orphan Drug Status aufrecht zu erhalten. Die Kommission entschied, dass Treosulfan (Trecondi®) die Kriterien als Arzneimittel für seltene Leiden gemäß Art. 3 der Verordnung (EG) Nr. 141/2000 (Verordnung 141/2000) nicht mehr erfüllen würde, da Treosulfan (Trecondi®) im Vergleich zu Melphalan- und Cyclophosphamid-haltigen Arzneimitteln, die generell als zufriedenstellende Methoden angesehen wurden, keinen erheblichen Nutzen haben würde.
Dagegen wurde am 08.08.2019 sowohl Klage beim EuG erhoben als auch Antrag auf vorläufigen Rechtschutz gestellt. Der Antrag auf vorläufigen Rechtschutz wurde mit Beschluss vom 26.09.2020 zurückgewiesen, der mit Beschluss vom 26.02.2020 vom EuGH bestätigt wurde.
In der Hauptsacheklage hat nun das EuG der Klage stattgegeben und die Entscheidung der Kommission, den Orphan Drug Status nicht aufrecht zu erhalten, für nichtig erklärt.
Das Klageverfahren und das Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtschutzes wurden von Preu Bohlig seit Juli 2019 betreut und gemeinsam von den Rechtsanwälten Peter v. Czettritz und Dr. Alexander Meier geführt und bearbeitet.
Die Kommission vertrat die Auffassung, dass eine teilweise Überschneidung der betroffenen Leiden ausreiche, um generell eine zufriedenstellende Methode im Sinne von Artikel 3 der VO darzustellen. Dem erteilte das EuG eine klare Absage und folgte der Argumentation von Preu Bohlig, dass die Zulassung und die Merkmalszusammenfassung den Geltungsbereich eines Arzneimittels definiert. Ein Arzneimittel kann nur dann und insoweit als zufriedenstellende Methode im Vergleich zu einem Arzneimittel, dessen Zulassung als Arzneimittel für seltene Leiden beantragt wird, eingestuft werden, als es für dasselbe seltene Leiden zugelassen ist. Maßgeblich sind hierfür der Umfang der jeweiligen Zulassung und die Merkmalszusammenfassung (sog. Fachinformation) eines Arzneimittels, die eng ausgelegt werden muss.
Dementsprechend kann der Off-Label-Gebrauch eines Arzneimittels nicht als zufriedenstellende Methode angesehen werden. Im Rahmen der Prüfung, ob und inwieweit eine zufriedenstellende Methode vorliegt, sind insbesondere auch Informationen zu pädiatrischen Zielpopulationen von besonderer Bedeutung.
Ausführlich setzt sich das Gericht in Rz. 49-90 mit den fünf vorgetragenen Klagegründen auseinander, weshalb der angegriffene Kommissionsbeschluss C (2019) 4858 final mit dem das Arzneimittel Treosulfan (Trecondi®) nicht als Arzneimittel für seltene Leiden eingestuft wurde, für nichtig zu erklären ist.
Klar und deutlich stellt das Gericht zur Auslegung der Anforderungen der Verordnung 141/2000 in Rn. 52 fest:
„ … dass ein Arzneimittel nur dann als „zufriedenstellende Methode“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchstabe b der Verordnung Nr. 141/2000 eingestuft werden kann, wenn es in der Union oder einem Mitgliedstaat der Union für dasselbe seltene Leiden zugelassen ist.“
In Rz. 55-59 setzt sich das Gericht mit der Bedeutung der Zulassung eines Arzneimittels und der dazugehörigen Fachinformation auseinander. Hierzu befasst sich das Gericht in den Rn. 58-60 mit dem Off-Label-Gebrauch eines Arzneimittels und stellt sehr deutlich klar, dass dieser nicht als zugelassen angesehen werden kann und dementsprechend der Off-Label-Gebrauch auch nicht als zufriedenstellende Methode i. S. v. Art. 3(1) der Verordnung 141/2000 angesehen wird. In Rn. 62 zieht das Gericht sodann den Schluss, dass die Merkmalszusammenfassung eines Arzneimittels nur eng ausgelegt werden kann.
Die zuständige Behörde müsse sich nämlich vor Erteilung einer Zulassung und auch im Zusammenhang mit den Änderungen oder Erweiterungen einer bestehenden Zulassung auf der Grundlage der vom Investor vorgelegten Unterlagen und Angaben vergewissern, dass der mit der Wirksamkeit verbundene Nutzen des Arzneimittels höher zu bewerten ist als die potentiellen Risiken. Zudem sollte es der Behörde nach dem Willen des europäischen Gesetzgebers möglich sein, anhand der Kriterien der Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit das Nutzen-Risiko-Verhältnis aller Arzneimittel beim Inverkehrbringen, bei der Verlängerung und der Genehmigung und dann, wenn die zuständige Behörde dies für zweckmäßig hält, zu analysieren. Aus diesem Grund müssen auch alle Änderungen und Erweiterungen einer bestehenden Zulassung zugelassen oder in die Erstzulassung einbezogen werden und der Inhaber eines bereits zugelassenen Arzneimittels ist verpflichtet, die Produktinformationen seines Arzneimittels auf dem aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand zu halten.
Dementsprechend, so das Gericht in Rz. 64, folge hieraus, dass eine Änderung der Merkmalszusammenfassung keineswegs eine Formalität darstelle, sondern vielmehr jede solche Änderung einer zusätzlichen Prüfung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses bedürfe.
Wenn das vom Antrag auf Zulassung als Arzneimittel für seltene Leiden erfasste Arzneimittel für die Diagnose, Verhütung oder Behandlung von Krankheiten oder Patientengruppen bestimmt ist, für die die Referenzarzneimittel nach ihren jeweiligen Merkmalszusammenfassungen, wenn auch nur teilweise, nicht zugelassen sind, sind diese Referenzarzneimittel in diesem Umfang nicht als „zufriedenstellende Methoden“ für diese Krankheiten oder Patientengruppen anzusehen (Rz. 66).
In Rz. 67 und 68 legt das Gericht dar, dass eine andere Betrachtung den Zielen der Verordnung 141/2000 widerspreche, Anreize für die Erforschung, Entwicklung und das Inverkehrbringen von Arzneimitteln für Krankheiten zu schaffen, die so selten auftreten, dass die pharmazeutische Industrie wenig geneigt ist, Arzneimittel zu entwickeln. Diesem Ziel liefe zuwider, ein potentielles Arzneimittel von den Vorteilen der Verordnung 141/2000 alleine deshalb auszuschließen, weil für einen Teil der seltenen Leiden, die mit diesem Arzneimittel behandelt werden sollen, „zufriedenstellende Methoden“ vorliegen.
Erfreulich deutlich stellt das Gericht die Bedeutung, die der Gesetzgeber der Verfügbarkeit von Kinderarzneimitteln beimisst, heraus und kommt in Rz. 76 zu der klaren Feststellung: „Folglich sind die Informationen zu den pädiatrischen Zielpopulationen in den Merkmalszusammenfassungen der verglichenen Arzneimittel von besonderer Bedeutung, und zwar auch im Rahmen der Prüfung, ob eine zufriedenstellende Methode i. S. v. Art. 3 (1) Buchstabe b der Verordnung 141/2000 vorliegt.“
In Bezug auf Treosulfan (Trecondi®) ist das Gericht in Rn. 80 und 81 daher zu dem Ergebnis gelangt, dass bereits zugelassene Arzneimittel auf Melphalan- und Cyclophosphamid-Basis nur insoweit als zufriedenstellende Methode angesehen werden können, als sie in Bezug auf Krankheiten und Zielpopulationen auch zugelassen sind. Trotz einer teilweisen Überschneidung sind diese Arzneimittel für die laut Merkmalszusammenfassung nicht erfassten Erkrankungen und Zielpopulationen nicht zugelassen und können daher für diese nicht als „zufriedenstellende Methode“ angesehen werden.
Mit dem Urteil ist das EuG der Argumentation von Preu Bohlig gefolgt und hat erfreulich deutlich die Bedeutung der Zulassung und den Inhalt der Fachinformation, die ebenfalls von den Zulassungsbehörden geprüft und freigegeben wird, hervorgehoben.
Entscheidend ist somit für die Prüfung, ob eine zufriedenstellende Methode nach Art. 3(1) der Verordnung 141/2000 vorliegt, die Merkmalszusammenfassung des Antragsarzneimittels und der Referenzarzneimittel in Bezug auf Erkrankungen und Zielpopulationen. Teilweise Überschneidungen zwischen Krankheiten und Zielpopulationen sind nicht geeignet, dem Arzneimittel die Vorteile der Verordnung vorzuenthalten. Für die sich nicht überschneidenden Erkrankungen und Patienten kann das Referenzarzneimittel nicht als zufriedenstellende Methode angesehen werden und eine eigene Zulassung mit Orphan-Drug-Status erreicht werden.
Über den entschiedenen Fall hinaus hat das Urteil daher grundsätzliche Bedeutung für die zukünftige Beurteilung, Gewährung und Aufrechterhaltung eines Orphan Drug Status, insbesondere auch im Bereich der Entwicklung von Kinderarzneimitteln.