Für bezugnehmende Zulassungen regelt Art. 10 der Richtlinie 2001/83/EG den Schutz der Zulassungsunterlagen des Vorantragstellers und bestimmt mit einem 8-jährigen Verwertungsschutz und einem sich hieran anschließenden 2-jährigen Vermarktungsschutz, der unter bestimmten Voraussetzungen um ein weiteres Jahr verlängert werden kann, grundsätzlich eine 10-jährige Unterlagenschutzfrist, während der Generika nicht vermarktet werden dürfen. Hierbei handelt es sich um die sogenannte 8+2+1-Regelung, die im nationalen Recht in § 24b AMG verankert ist und gemäß § 141 Abs. 5 AMG nicht für Referenzarzneimittel gilt, deren Zulassung vor dem 30.10.2005 beantragt wurde.
Der Unterlagenschutz wird gemäß Art. 10 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2 der Richtlinie 2001/83/EG durch die erste gemäß Art. 6 in Übereinstimmung mit Art. 8 der Richtlinie 2001/83/EG erteilte Zulassung – somit eine acquis-konforme Zulassung – in Gang gesetzt.
Vorliegend wurde die erste Genehmigung für ein Bendamustin-haltiges Arzneimittel – „Cytostasan“ – bereits 1971, allerdings in der früheren DDR durch Eintragung in das dortige Arzneimittelregister, erteilt. Nach der deutschen Wiedervereinigung galt das Arzneimittel nach den Vorgaben der EG-Recht-Überleitungsverordnung vom 18.12.1990 zunächst als zugelassen und durchlief dann, beginnend mit einem fristgemäß am 26.06.1991 gestellten Antrag auf Verlängerung der fiktiven Zulassung, in entsprechender Anwendung des Verfahrens nach Art. 3 § 7 des Gesetzes zur Neuordnung des Arzneimittelrechts das Nachzulassungsverfahren. Mit Bescheid vom 19.07.2005 wurde eine Nachzulassung für die Indikationen Nicht-Hodgkin-Lymphom (NHL) und Multiples Myelom (MM) erteilt. Versagt wurde die Zulassung für das Anwendungsgebiet Chronisch-Lymphatische-Leukämie (CLL).
Jedenfalls mit den beiden EuGH-Entscheidungen zu Nivalin, Rs. C-527/07 vom 18.09.2009 und zu Memantin, Rs. C-195/09, vom 28.07.2011, steht fest, dass eine positiv erteilte Nachzulassung eine acquis-konforme Zulassung im Sinne des Artikel Art. 6 in Übereinstimmung mit Art. 8 Richtlinie 2001/83/EG darstellt und damit die Unterlagenschutzfrist in Gang setzt.
Relevant ist in diesem Zusammenhang ebenfalls, dass Art. 6 Abs. 1 UA 2 der Richtlinie 2001/83/EG vorsieht, dass der Unterlagenschutz mit der erstmaligen Zulassung eines Stoffes in der europäischen Union beginnt und alle späteren Änderungen und Erweiterungen für die Zwecke der Anwendung der Unterlagenvorschriften als Bestandteil der selben umfangreichen Genehmigung (Global Marketing Authorization) angesehen werden.
Der Grundsatz der Globalzulassung entspricht der ständigen Rechtsprechung des europäischen Gerichtshofs – EuGH, Urteil vom 03.12.1998 Rs. C-368/96 „Generics“; EuGH, Urteil vom 29.04.2004, Rs. C-106/01, „Novartis“ – und ist auch von den nationalen Behörden zu beachten. Auch für neue Indikationen wird danach kein gesonderter Schutz gewährt.
Im nationalen Recht wurde die Globalzulassung in § 25 Abs. 9 AMG umgesetzt, wobei dieser nach § 141 Abs. 9 AMG nicht auf Arzneimittel anzuwenden ist, deren Zulassung vor dem 06.09.2005 beantragt wurde. Maßgeblich für den Stichtag des 06.09.2005 ist hierbei nicht die Erteilung der ersten ursprünglichen Zulassung, sondern vielmehr die Erteilung der nachträglichen Änderung oder Erweiterung, so dass für die Frage der Anwendung des § 25 Abs. 9 AMG auf die Erteilung der späteren Zulassung abzustellen ist – OVG Münster, Beschlüsse vom 11.10.2013, Az. 13 B 2756/12 und vom 27.11.2014, Az. 13 B 950/14.
Nach Ablauf der Unterlagenschutzfrist dürfen Generikazulassungen erteilt und Generika in Verkehr gebracht werden, ohne dass der Originator noch eine Verletzung seiner Unterlagenrechte geltend machen kann (vgl. v. Czettritz, Strelow: „Konsequenzen des Urteils des EuGH vom 23.10.2014 (Rechtssache C-104/13) für die Bejahung eines objektiven Rechts nach der VwGO im Fall von Drittwidersprüchen“, PharmR 2015, 96).
Am 07.11.2011 beantragte die Helm AG im Wege eines dezentralisierten Verfahrens, mit Dänemark als RMS und mehreren CMS, unter anderem Finnland, eine Genehmigung im abgekürzten Verfahren gemäß Art. 10 der Richtlinie 2001/83/EG für das Inverkehrbringen des Arzneimittels Alkybend. Als Referenzarzneimittel dienten Ribomustin und Levact, beide mit dem Wirkstoff Bendamustin.
Ribomustin war am 19.07.2005 vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte im Rahmen des Nachzulassungsverfahren für die Indikationen NHL und MM erteilt worden. Zulassungsinhaber von Ribomustin war Astellas Pharma.
Am 15.07.2010 erhielt Astellas im Rahmen eines dezentralisierten Verfahrens die Zulassung für Levact, ebenfalls mit dem Wirkstoff Bendamustin, für die Indikationen NHL, MM und auch CLL, die seinerzeit im Rahmen des Nachzulassungsverfahrens für Ribomustin versagt worden war. Nach Erhalt der Zulassung für Levact verzichtete Astellas auf die Zulassung von Ribomustin.
Nach Abschluss des DCP-Verfahrens ging Astellas sowohl im RMS, als auch in allen CMS gegen die erteilten generischen Zulassungen vor, mit der Argumentation, die Unterlagenschutzfrist sei verletzt, weil es für die zu beurteilende Unterlagenschutzfrist nicht auf die am 19.07.2005 in Deutschland erteilte Nachzulassung ankäme, sondern vielmehr die Erteilung der Zulassung für Levact in Frankreich am 15.07.2010 relevant wäre.
Dies machte Astellas sowohl in Deutschland geltend, dem Mitgliedstaat in dem die erste Zulassung für den Wirkstoff Bendamustin am 19.07.2005 (Ribomustin) erteilt wurde, ebenso wie im RMS, dass das jeweilige DCP-Verfahren koordinierte, als auch in sämtlichen am DCP-Verfahren beteiligten CMS. Nach und nach ergingen in den einzelnen Mitgliedstaaten abschlägige Entscheidungen, die allesamt die Rechtmäßigkeit der jeweils erteilten nationalen Zulassung, in unterschiedlicher Deutlichkeit, bestätigten.
Vor diesem Hintergrund hat dann der Oberste Verwaltungsgerichtshof in Finnland beschlossen, das finnische Verfahren auszusetzen und dem EuGH die nachfolgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen.
Das finnische Gericht hat dem EuGH zwei Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt.
Zum einen wollte es wissen, ob Art. 28 Abs. 5 und Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83 dahin auszulegen sind, dass die zuständige Behörde befugt ist, bei der Erteilung der nationalen Genehmigung den Zeitpunkt des Beginns der Unterlagenschutzfrist des Referenzarzneimittels feststellen.
Zum anderen, falls die Antwort hierauf „nein“ lautet, ob ein Gericht auf den Rechtsbehelf des Originators hin den Zeitpunkt des Beginns der Unterlagenschutzfrist prüfen darf, oder der gleichen Beschränkung wie die Behörde unterliegt. Weitergehend wollte das finnische Gericht wissen, wie für den Originator ein wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz gemäß Art. 47 der Charta und Art. 10 der Richtlinie 2001/83 in Bezug auf den Unterlagenschutz gewahrt wird und ob dies die Verpflichtung des einzelstaatlichen Gerichts umfasst, zu prüfen, ob die in einem anderen Mitgliedsstaat erteilte Erstgenehmigung für das Inverkehrbringen des Referenzarzneimittels im Einklang mit den Vorschriften der Richtlinie 2001/83 ergangen ist.
Die erste Vorlagefrage hat der EuGH verneint und eine Entscheidungsbefugnis der zuständigen nationalen Behörde über den Beginn des Zeitpunkts der Unterlagenschutzfrist abgelehnt, mit der Begründung, dass das dezentrale Zulassungsverfahren sein Ende findet, wenn das Einverständnis aller Mitgliedsstaaten, in denen der Antrag auf Genehmigung für das in Verkehr bringen gestellt wurde, durch den Referenzmitgliedsstaat festgestellt ist. Nach Feststellung dieses Einverständnisses aller, haben die zuständigen Behörden der Mitgliedsstaaten bei Erlass ihrer Entscheidung über das Inverkehrbringen dieses Arzneimittels in ihrem Hoheitsgebiet nicht mehr die Möglichkeit, das Ergebnis dieses Verfahrens in Frage zu stellen. In diesem Verfahren sei eine Prüfung des Ablaufs der Unterlagenschutzfrist des Referenzarzneimittels beinhaltet, sodass die zuständigen Behörden dieser Mitgliedsstaaten nach der Feststellung dieses Einverständnisses nicht erneut eine solche Prüfung durchführen können.
Zur zweiten Vorlagefrage hat der EuGH festgestellt, dass dem Originator zur Wahrung seiner Rechte zuzuerkennen ist, dass er die Festlegung des Beginns der Unterlagenschutzfrist im Rahmen eines Rechtsbehelfes anfechten können muss. Daraus folge, dass er zur Gewährleistung eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes, die Unterlagenschutzrechte vor einem Gericht des Mitgliedsstaates geltend machen kann, dessen zuständige Behörde eine Entscheidung über die Genehmigung für das Inverkehrbringen des Generikums getroffen hat. Nicht hingegen ist dem Orginator erlaubt, diese in anderen Mitgliedsstaaten in Frage zu stellen.
Dementsprechend hat der EuGH auf die zweite Frage geantwortet, dass Artikel 10 der Richtlinie 2001/83 in Verbindung mit Artikel 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass ein Gericht eines betroffenen Mitgliedsstaates befugt ist, die Festlegung des Zeitpunkts des Beginnes der Unterlagenschutzfrist des Referenzarzneimittels zu prüfen.
Nicht hingegen ist jedoch dieses Gericht befugt, festzustellen, ob die in einem anderen Mitgliedsstaat erteilte Erstgenehmigung für das Inverkehrbringen des Referenzarzneimittels mit dieser Richtlinie vereinbar war.
Mit dieser erfreulichen Entscheidung des EuGHs ist davon auszugehen, dass zukünftig nach Erteilung einer generischen Zulassung nicht mehr in jedem betroffenen Mitgliedstaat hiergegen gesondert Klage erhoben wird. Dies spart Zeit und Kosten und trägt weiter zu einer Harmonisierung des EU-Binnenmarkts im Arzneimittelsektor bei.