Der Durchführungsbeschluss der Europäischen Kommission vom 02.05.2023, mit dem der Vermarktungsschutz für Tecfidera (Biogen) gemäß Art. 14 Abs. 1 Verordnung Nr. 726/2004 um ein weiteres Jahr bis Februar 2025 verlängert wurde, wurde mit Urteil vom 24.09.2025 vom EuG für nichtig erklärt.
I. Einleitung
Preu Bohlig hat für zwei Generikafirmen getrennte Nichtigkeitsklagen beim EuG eingelegt gegen den Durchführungsbeschluss der Europäischen Kommission vom 02.05.2023 zur Änderung der mit dem Beschluss C (2014) 601 final erteilten Zulassung für das Humanarzneimittel „Tecfidera/Dimethlyfumarat“, mit dem die Kommission den Vermarktungsschutz für Tecfidera gemäß Art. 14 Abs. 11 der Verordnung Nr. 726/2004 um ein zusätzliches Jahr verlängert hat, sodass der Vermarktungsschutz 11 Jahre nach dem Inkrafttreten des Durchführungsbeschlusses C 2014/601 final der Kommission vom 03.02.2014 (Zulassungserteilung für Tecfidera), somit am 03.02.2025 endete.
In den vorliegenden Verfahren stritten die Kommission, unterstützt vom Orginator Biogen (Referenzarzneimittel), und zahlreiche Generikafirmen um die Frage, ob das Referenzarzneimittel Tecfidera überhaupt Unterlagenschutz genießt, oder nicht zu einer früher erteilten Global Marketing Zulassung zählt und die +1Jahr Verlängerung des Vermarktungsschutzes zu Unrecht erteilt worden war.
In diesem Verfahren waren zahlreiche regulatorischer Fragen der Arzneimittelzulassung von höchstem Niveau, die bislang noch nicht entschieden wurden, streitig und zahlreiche Kanzleien (und Behörden) im In- und Ausland waren mit der Interpretation der EuGH-Entscheidung und ihrer Auswirkung sowie der Bedeutung von Art. 14 der Verordnung Nr. 726/2004 und der Kommissionsentscheidung befasst.
II. Sachverhalt
Zunächst wurde von den Zulassungsbehörden Unterlagenschutz für Tecfidera angenommen, basierend auf einem CHMP-Bewertungsbericht vom 26.11.2013, mit dem angenommen wurde, dass sich Dimethylfumarat (DMF), der Wirkstoff von Tecfidera, von dem seit langem zugelassenen Arzneimittel Fumaderm, das aus einer Mischung von Dimethylfumarat (DMF) und Ethylenhydrogenfumarat (MEF) besteht, unterscheidet, so dass für diesen vermeintlich neuen Wirkstoff Unterlagenschutz und Vermarktungsschutz für einen Zeitraum von insgesamt 10 Jahren bestehe.
Hiergegen hatte die Firma Polpharma am 09.10.2018 Klage beim EuG erhoben, über die mit Urteil vom 05.05.2021 (Rechtssache T-611/18) entschieden wurde. Eine ausführliche Darstellung des Sachverhaltes zur Zulassung von Fumaderm und zur Zulassung von Tecfidera sowie dem Klageverfahren der Firma Polpharma findet sich in den Rn. 1-50 des Urteils in der Rechtssache T-611/18.
Mit dem Urteil vom 05.05.2021 hat das EuG den Beschluss der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) mit dem der Antrag von Polpharma auf Erteilung einer Generikazulassung zu Tecfidera abgelehnt wurde, für nichtig erklärt, mit der Begründung die EMA habe überprüfen müssen, dass die betreffenden Wirkstoffe in der Wirkstoffkombination jeweils einen therapeutischen Beitrag leisteten.
Am 12.06.2021 beantragte der Originator Biogen im Wege einer Typ II Änderung die Zulassung einer neuen therapeutischen Indikation für Tecfidera und damit die Ausweitung der zugelassenen Verwendung von Tecfidera auf einen Teil der pädiatrischen Bevölkerungsgruppe sowie eine Verlängerung der 10-jährigen Marktschutzfrist um 1 Jahr. Die Verlängerung des Marktschutzes um 1 Jahr für Tecfidera wurde von der Europäischen Kommission mit Durchführungsbeschluss vom 13.05.2022 (C (2022) 3251 (final) mit der Begründung abgelehnt, das EuG habe mit Urteil vom 05.05.2021 in der Rechtssache T-611/18 festgestellt, dass der Beschluss der EMA C(2014) 601 (final) (Zulassungserteilung für Tecfidera) insoweit nicht anwendbar sei, als die Kommission in diesem Durchführungsbeschluss festgestellt habe, dass Tecfidera nicht Bestandteil derselben umfassenden Genehmigung für das Inverkehrbringen wie Fumaderm ist. In einer adhoc-Stellungnahme hat die Europäischen Arzneimittelagentur am 11.11.2021 festgestellt, dass die Gesamtheit der verfügbaren Daten nicht belegen könne, dass Monoethylfumaratsalze (MEF) einen klinisch relevanten therapeutischen Beitrag in Fumaderm leisteten. Auf dieser Grundlage gelangte der CHMP zu dem Schluss, dass unbeschadet des Ergebnisses des Rechtsmittelverfahrens gegen das Urteil T-611/18 die Gewährung der Verlängerung des Vermarktungsschutzes für Tecfidera um ein weiteres Jahr zu diesem Zeitpunkt nicht empfohlen werden könne. Daher war die EMA der Auffassung, dass sie keine Verlängerung des Vermarktungsschutzes um ein weiteres Jahr gemäß Art. 14 Abs. 11 der VO (EG) Nr. 726/2004 gewähren könne – so der Durchführungsbeschluss C (2022) 321 final vom 13.05.2022.
Mit Urteil vom 16.03.2023 in den verbundenen Rechtssachen C-438/21 P bis C440/21 P hat der EuGH sodann das Urteil des EuG vom 05.05.2021 aufgehoben und festgestellt, dass, anders als mit dem angefochtenen Urteil angenommen, sich die Kommission auf die Beurteilung des CHMP, ob sich DMF von dem aus DMF und MEF bestehenden Fumaderm unterscheidet, vor Erlass des Durchführungsbeschlusses vom 30.01.2014 habe verlassen dürfen. Mit dem mit den Klagen zum EuG angegriffenen Durchführungsbeschluss der Kommission vom 02.05.2023, der den Beschluss C (2022) 3251 final vom 13.05.2022 ersetzt, wurde sodann für Tecfidera der Vermarktungsschutz um 1 zusätzliches Jahr verlängert. Die Erteilung der zusätzlichen Indikation, die nach dem Wortlaut Voraussetzung für die Verlängerung des Vermarktungsschutzes ist, war nicht innerhalb der von Art. 14 VO Nr. 726/2004 festgelegten ersten 8 Jahre ab Erteilung der Zulassung gewährt worden.
Mit den erhobenen Nichtigkeitsklagen hat Preu Bohlig im Wesentlichen dies gerügt, nämlich dass dieser angefochtene Beschluss erlassen worden ist, ohne dass die Genehmigung für eine neue therapeutische Indikation von Tecfidera zuvor während der ersten 8 Jahre des Vermarktungsschutzes für dieses Arzneimittels von 10 Jahren, wie dies der Wortlaut von Art. 14 Abs. 11 der Verordnung Nr. 726/2004 ausdrücklich fordert, erwirkt worden wäre.
III. Die EuG-Entscheidungen
Zunächst legt das Gericht, wie üblich, ausführlich den Sachverhalt und die vorgebrachten Argumente dar, bevor es in den Entscheidungsgründen die gerichtliche Auffassung zum Klagegrund der Nicht-Beachtung der Frist des Art. 14 Abs. 11 darlegt.
Das Gericht beginnt seine Subsumtion sodann mit der Feststellung, dass dieser Klagegrund im Wesentlichen die Bestimmung der Tragweite von Art. 14 Abs. 11 der Verordnung Nr. 726/2004 erfordere und insbesondere der Folgen, die sich daraus ergäben, dass der Inhaber der Genehmigung die Frist zur Erwirkung therapeutischer Indikationen um eine Verlängerung des Vermarktungsschutzes um ein zusätzliches Jahr in Anspruch nehmen zu können, nicht einhalte.
Hierzu wird die Bestimmung des Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83 sowie Art. 14 Abs. 11 der Verordnung Nr. 726/2004 wiedergegeben, um sodann zwei einander ergänzende Ziele des Unionsgesetzgebers darzulegen, die beachtet werden müssen. Zum einen das Ziel, die Forschung auf dem Gebiet neuer therapeutischer Indikationen zu fördern, die einen erheblichen klinischen Nutzen darstellen und zum anderen dem Ziel der Begünstigung der Produktion von Generika, weshalb in Art. 14 Abs. 11 der Verordnung Nr. 726/2004 vorgesehen sei, die Verlängerung des Vermarktungsschutzes um ein zusätzliches Jahr nur in den Fällen zu gewähren, in denen das neue Anwendungsgebiet innerhalb der ersten 8 Jahre dieser 10 Jahre genehmigt wird. Diese Verlängerung des Zeitraumes des Marktexklusivitätsrecht um 1 Jahr stelle in den Augen des Unionsgesetzgebers den angemessenen Vorteil dar, um die Investitionen in neue, therapeutische Indikationen auszugleichen.
Sodann kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass diese Ziele nur erreicht werden können, wenn alle genannten Fristen strikt eingehalten werden. Außerdem sehe Art. 14 Abs. 11 der Verordnung Nr. 726/2004 insoweit keine Ausnahme vor.
Letztlich kommt das Gericht daher zu dem erfreulichen Ergebnis, dass Art. 14 Abs. 11 der Verordnung Nr. 726/2004 dahin auszulegen ist, dass nur die Erteilung einer Genehmigung eines oder mehrerer neuer Anwendungsgebiete während der ersten 8 Jahre eines Zeitraumes von 10 Jahren des Vermarktungsschutzes für das betreffende Humanarzneimittel eine Verlängerung dieses Zeitraumes von 10 auf 11 Jahren ermöglichen kann. Die Erwirkung dieser Genehmigung ist somit die notwendige Voraussetzung für die Gewährung einer Verlängerung des Vermarktungsschutzes um 1 zusätzliches Jahr, d. h. eine Verlängerung von 10 auf 11 Jahre.
Zudem weist das Gericht erfreulich deutlich zum Vorbringen der Kommission und den angeblich besonderen und außergewöhnlichen Umständen der Rechtsache hin, dass unsererseits tatsächlich im Wesentlichen ausschließlich gerügt worden sei, dass der angefochtene Beschluss erlassen worden sei, ohne dass die Genehmigung für eine neue therapeutische Indikation von Tecfidera zuvor während der ersten 8 Jahre des Vermarktungsschutzes für dieses Arzneimittel von 10 Jahren erwirkt worden wäre.
Sodann stellt das Gericht hierzu ausdrücklich fest, dass das Inverkehrbringen eines Arzneimittels für eine neue therapeutische Indikation erst nach Erwirken einer Änderung der ursprünglichen Genehmigungen für das Inverkehrbringen möglich ist und sich aus Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83 in Verbindung mit Art. 14 Abs. 11 der Verordnung Nr. 726/2004 ergibt, dass es dem Inhaber einer Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Arzneimittels freistehe eine Änderung dieser Genehmigung zu beantragen, um eine Genehmigung für ein neues Anwendungsgebiet dieses Arzneimittels zu erwirken und zwar unabhängig davon, ob dieses Teil einer umfassenden Genehmigung für das Inverkehrbringen eines anderen Arzneimittels ist oder nicht. Außerdem sei es möglich, eine solche Genehmigung zu beantragen, ohne notwendigerweise auch die Verlängerung des Vermarktungsschutzes für das betreffende Arzneimittel gleichzeitig zu beantragen.
Sodann wird konkret zum Antrag von Biogen vom 02.06.2021 und der erhaltenen Genehmigung am 13.05.2022, somit mehr als 10 Monate vor dem EuGH-Urteil vom 16.03.2023, Stellung genommen und erfreulicherweise deutlich subsumiert, dass damit das Urteil vom 05.05.2021 in keiner Weise der Einreichung des Antrages und der Erwirkung einer Genehmigung für die neue therapeutische Indikation entgegenstand. Gleichermaßen hätte Biogen vor dem 02.06.2021 einen entsprechenden Antrag bei der Kommission einreichen können.
Deutlich macht das Gericht auch, dass zum anderen dieses Urteil die Kommission auch nicht daran gehindert habe, über diesen Antrag von Biogen innerhalb der ersten 8 Jahre des ursprünglichen Zeitraumes von 10 Jahren des Vermarktungsschutzes für Tecfidera – also vor dem 03.02.2022 – zu entscheiden, unabhängig von dem Antrag auf Verlängerung des Vermarktungsschutzes von 10 auf 11 Jahre.
Damit sei nicht nachgewiesen, dass das Urteil vom 05.05.2021 eine Auswirkung hinsichtlich der Nichterteilung der Genehmigung eines neuen Anwendungsgebietes von Tecfidera innerhalb der vorgesehenen Frist hatte.
Sodann stellt das Gericht fest, dass nach ständiger Rechtsprechung ein beklagtes Organ nach einem Nichtigkeitsurteil, das ex tunc gilt und damit der für nichtig erklärten Handlung rückwirkend ihren rechtlichen Bestand nimmt, gemäß Art. 266 AEUV verpflichtet ist, die erforderlichen Maßnahmen zur Beseitigung der Wirkungen des festgestellten Rechtsverstoßes zu ergreifen. Im Falle eines bereits vollzogenen Rechtsaktes könne es geboten sein, den Kläger wieder in den Stand zu setzen, in dem er sich vor diesem Rechtsakt befand.
Hierzu legt das Gericht ausdrücklich dar, dass diese Maßnahmen jedoch nicht die Tilgung der Handlungen als solcher aus der Unionsrechtsordnung betrifft, da diese bereits aus der richterlichen Nichtigerklärung der Handlung folgten. Sie beträfen vielmehr die Beseitigung der Wirkungen der in dem Nichtigkeitsurteil festgestellten Rechtsverstöße, um sie in Einklang mit dem Unionsrechts zu beheben.
Insofern oblag es zwar im Lichte dieser Rechtsprechung der Kommission und der EMA im Rahmen der Durchführung des Urteils vom 16.03.2023 zu prüfen, welche Maßnahmen erforderlich wären, um Biogen wieder in den Stand zu setzen, indem sie sich als Inhaberin der Genehmigungen für das Inverkehrbringen von Fumaderm und Tecfidera vor dem vom Gerichtshof aufgehobenen Urteil vom 05.05.2021 befand.
Schließlich hat das Gericht deutlich festgestellt, dass die Erwirkung einer Genehmigung eines neuen Anwendungsgebietes eines Arzneimittels nach Art. 14 Abs. 11 der Verordnung Nr. 726/2004 eine notwendige Voraussetzung für die Gewährung einer Verlängerung des Vermarktungsschutzes für dieses Arzneimittel von 10 auf 11 Jahre sei. Daher seien die in Durchführung des Urteils vom 05.05.2021 ergriffenen Handlungen entgegen dem Vorbringen der Kommission nicht unvereinbar geworden. Unabhängig von diesem Urteil konnte nämlich die Kommission im Durchführungsbeschluss C (2022) 3251 final vom 13.05.2022 keine Verlängerung des Vermarktungsschutzes für Tecfidera um 1 Jahr gewähren, da die in Art. 14 Abs. 11 der Verordnung vorgesehene Voraussetzung, die vorherige Erwirkung einer Genehmigung eines neuen Anwendungsgebietes innerhalb der 8-Jahresfrist, nicht erfüllt war. An dieser Feststellung ändere das Urteil des EuGH vom 16.03.2023 nichts.
Ferner wird daraus die erfreuliche Schlussfolgerung gezogen, dass im Lichte der Grundsätze der angesprochenen Rechtsprechung hervorgehe, die erforderlichen Maßnahmen, die die Kommission und die EMA zur Durchführung des EuGH-Urteils vom 16.03.2023 ergreifen mussten, nicht zu einer Änderung des Durchführungsbeschlusses C (2022) 3251 final führen können, um darin eine Verlängerung der Dauer des Vermarktungsschutzes für Tecfidera von 10 auf 11 Jahre einzuführen.
Nach alledem ist der angefochtene Beschluss, der in Durchführung des Urteils vom 16.03.2023 erging, nicht in Einklang mit dem Unionsrechts erlassen worden und verstößt somit gegen Art. 266 AEUV. Folglich war der angefochtene Beschluss für nichtig zu erklären.
IV. Resümee
Höchst erfreulich ist bei den EuG Entscheidungen vom 24.09.2025 nicht nur, dass das Gericht Preu Bohlig im Ergebnis Recht gibt und den Durchführungsbeschluss C (2023) 3067 final der Kommission vom 02.05.2023 zur Änderung der mit dem Beschluss C (2014) 601 final erteilten Zulassung für das Humanarzneimittel „Tecfidera-Dimethylfumarat“ für nichtig erklärt, sondern insbesondere auch, dass sich das Gericht in der Begründung, wie es zu diesem Ergebnis kommt, vollumfänglich auf die von Preu Bohlig vorgebrachten wesentlichen Argumente stützt.