1. Die Auslegung von Patentansprüchen ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs stets geboten, und zwar auch dann, wenn der philologische Wortlaut des Anspruchs eindeutig zu sein schein. Dies gilt nicht nur für das Verletzungsverfahren (vgl. nur BGH GRUR 1986, 803 – Formstein; BGH GRUR 2002, 515 – Schneidmesser I), sondern gerade auch für das Nichtigkeitsverfahren (vgl. zuletzt GRUR 2012, 1124 – Polymerschaum I). Bezeichnenderweise sind zwei der hier zu besprechenden Fälle, nämlich die Entscheidungen „Rotorelemente“ und „Zugriffsrechte“ im Nichtigkeitsverfahren ergangen.
2. Zur kleinen Münze des Patentrechtes gehört es auch, dass die in der Patentschrift benutzten Begriffe im Zweifel aus der Patentschrift heraus und damit eigenständig zu definieren sind, da jede Patentschrift ihr eigenes Lexikon darstellt (BGH GRUR 1999, 909 – Spannschraube; BGH 2005, 754 – werkstoffeinstückig). Dieser Grundsatz gilt insbesondere und gerade auch dann, wenn die Auslegung eines Begriffes auf der Grundlage des „patenteigenen Lexikons“ zu einem Verständnis führt, das vom fachüblichen Verständnis abweicht.
3. Das „patenteigene Lexikon“ wird maßgeblich durch die Beschreibung vorgegeben. Mittels des daraus abzuleitenden Verständnisses ist der Sinngehalt der in den Patentansprüchen verwendeten Begriffe zu definieren. An dieser Stelle tritt mit besonderer Deutlichkeit das Spannungsverhältnis zwischen Ansprüchen und Beschreibung zutage: Nach Art. 69 EPÜ und dessen Auslegungsprotokoll sowie nach der korrespondierenden nationalen Praxis zu § 14 PatG gilt der Grundsatz des Primats des Patentanspruches, wonach bei Widersprüchen zwischen Anspruch und Beschreibung der Anspruch den Vorrang genießt, weil dieser und nicht die Beschreibung den geschützten Gegenstand – also das durch den Erteilungsakt verliehene Monopol – definiert und auch begrenzt (vgl. nur BGH GRUR 2011, 701 – Okklusionsvorrichtung).
Andererseits ist die für Bestimmung des Gegenstandes des Patents der technische Sinngehalt des Patentanspruches maßgeblich und nicht dessen bloßer Wortlaut auf einer rein philologischen Ebene, da der Sinngehalt des Anspruchs unter Heranziehung der Beschreibung zu ermitteln ist (vgl. hierzu BGH GRUR 2015, 875 Tz. 16 – Rotorelemente). Wie nun dieser „hermeneutische Zirkel“ zwischen philologischem Anspruchswortlaut und in der Beschreibung beschlossener technischer Information aufzulösen ist, ist Gegenstand der drei zu besprechenden Entscheidungen.
4. Im Fall „Zugriffsrechte“ war eine Auslegung des Anspruches zu überprüfen, die nach Auffassung des Bundesgerichtshofs im Gegensatz zu den beiden in der Patentschrift geschilderten Ausführungsbeispielen stand (vgl. Tz. 26 + 40). Diese Auslegung hat der Bundesgerichtshof verworfen. Er hat ausgeführt, dass eine Auslegung des Patentanspruches, die zur Folge hätte, dass keines der in der Patentschrift geschilderten Ausführungsbeispiele vom Gegenstand des Patents erfasst werden würde, nur dann in Betracht kommt, wenn andere Auslegungsmöglichkeiten, die zumindest zur Einbeziehung eines Teils der Ausführungsbeispiele führen, zwingend ausscheiden oder wenn sich aus dem Patentanspruch hinreichend deutliche Anhaltspunkte dafür entnehmen lassen, dass tatsächlich etwas beansprucht wird, das so weitgehend von der Beschreibung abweicht (Leitsatz und Tz. 26). Schlussendlich ist der Bundesgerichtshof im dort entschiedenen Fall zu dem Ergebnis gekommen, dass der Patentanspruch – noch – hinreichend deutlich erkennen lasse, dass mit den darin vorgesehenen Merkmalen beide in der Beschreibung geschilderten Ausführungsbeispiele erfasst werden sollen (Tz. 46).
5. Eine solche mit der Beschreibung und deren Ausführungsbeispielen übereinstimmende Auslegung des Anspruchs wird in der Entscheidung „Kreuzgestänge“ besonders deutlich: Dort hat der Bundesgerichtshof im Leitsatz ausgesprochen: Werden in der Beschreibung eines Patents mehrere Ausführungsbeispiele als erfindungsgemäß vorgestellt, sind die im Patentanspruch verwendeten Begriffe im Zweifel so zu verstehen, dass sämtliche Ausführungsbeispiele zu ihrer Ausfüllung herangezogen werden können. Weiter stellt der BGH in der Entscheidung (Tz. 22) fest, dass Patentschriften in einem sinnvollen Zusammenhang zu lesen sind und der Patentanspruch im Zweifel so zu verstehen ist, dass sich keine Widersprüche zu den Ausführungen in der Beschreibung und den bildlichen Darstellungen in den Zeichnungen ergeben, weil Patentschriften für die dort verwendeten Begriffe ihr eigenes Lexikon darstellen und letztlich nur der sich aus der Patentschrift ergebende Begriffsinhalt maßgebend ist.
6. Damit erhebt sich sogleich die Frage, welche Grenze sich für eine „sinnvolle“ Auslegung von Anspruch und Beschreibung in deren Zusammenhalt ergibt, wenn einzelne Ausführungsbeispiele oder Teile hiervon zum Beispiel aufgrund einer im Erteilungsverfahren stattgefundene Beschränkung mit dem Anspruch nicht mehr in Einklang zu bringen sind, also die bekannte Konstellation des Falles „Okklusionsvorrichtung“ vorliegt. Hier bekräftigt der BGH in der Entscheidung „Kreuzgestänge“ die Grundsätze der Entscheidung „Okklusionsvorrichtung“ (GRUR 2011, 701). Er führt aus: Nur wenn und soweit sich die Lehre des Patentanspruchs mit der Beschreibung und den Zeichnungen nicht in Einklang bringen lässt und ein unauflösbarer Widerspruch verbleibt, dürfen diejenigen Bestandteile der Beschreibung, die im Patentanspruch keinen Niederschlag gefunden haben, nicht zur Bestimmung des Gegenstands des Patents herangezogen werden (Tz. 22 und Leitsatz).
7. Bei der Eingrenzung der Fallkonstellation, in der ein „unauflösbarer Widerspruch“ zwischen Beschreibung und erteiltem Anspruch besteht, steht die praktische Rechtsanwendung indessen vor einem „Henne-Ei-Problem“: Allein aus dem erteilten Patent lässt sich oftmals nur schwer ableiten, ob ein Ausführungsbeispiel oder Teile hiervon nicht mehr vom Gegenstand des Patentanspruchs umfasst sind, etwa weil dieser im Erteilungsverfahren beschränkt wurde oder ob ein (beschränkter) Anspruch noch so ausgelegt werden soll und kann, dass er auch das Ausführungsbeispiel umfasst. Anschaulich wurde dies insbesondere im Fall „Okklusionsvorrichtung“ (GRUR 2011, 701 und die Anmerkung Kühnen hierzu).
In der Entscheidung „Okklusionsvorrichtung“ (Tz. 25) hatte es der BGH noch dahinstehen lassen, ob zur Lösung dieses „Henne-Ei-Problems“ die Offenlegungsschrift des Patentes als Auslegungshilfe herangezogen werden kann. Die Brisanz dieser Fragestellung ergibt sich auch daraus, dass das Auslegungsprotokoll zu Art. 69 EPÜ Vorgänge im Erteilungsverfahren als „Quelle“ für die Auslegung des Patentanspruches gerade nicht zulässt (vgl. BGH GRUR 2002, 51 – Kunststoffrohrteil).
Zur Lösung des „Henne-Ei-Problems“ gibt der Bundesgerichtshof in der Entscheidung „Rotorelemente“ nun Hinweise: Dort war zu prüfen, ob der Gegenstand des erteilten Anspruch gegenüber der ursprünglichen Offenbarung unzulässig erweitert worden war. Hierzu stellte der Bundesgerichtshof einmal fest, dass der Inhalt der Ursprungsunterlagen oder der Veröffentlichung der Anmeldung bei der Auslegung außer Betracht zu bleiben hat. Weder darf der Patentanspruch nach Maßgabe der ursprünglichen Offenbarung ausgelegt werden, noch darf sein Sinngehalt dadurch ermittelt werden, dass dem Wortlaut des Anspruchs abweichende Formulierungen der Anmeldung gegenübergestellt werden (Tz. 17). Doch darf dann, wenn zweifelhaft bleibt, ob sich Patentanspruch und Beschreibung sinnvoll zueinander in Beziehung setzen lassen, die „Anspruchsgeschichte“ herangezogen werden; im entschiedenen Fall durfte sie zur Klärung der Frage herangezogen werden, ob mit dem Anspruch ein Gegenstand unter Schutz gestellt worden ist, der von dem in der Beschreibung Offenbarten abweicht oder hinter diesem zurückbleibt (Tz. 17). Für die Praxis wird man daraus ableiten können, dass z.B. die Offenlegungsschrift als Auslegungshilfe herangezogen werden kann, um sich so die „Anspruchsgeschichte“ zu vergegenwärtigen (siehe zur „Beschränkungsgeschichte“ als Auslegungshilfe insbesondere auch Meier-Beck, GRUR 2012, 1177, 1181).
8. Das Gebot einer „sinnvollen Auslegung“ von Patentansprüchen, nämlich die Entwicklung eines sinnvollen und möglichst widerspruchsfreien Gesamtverständnisses der Patentansprüche und der zu ihrer Erläuterung dienenden Beschreibung wird in der Entscheidung „Rotorelemente“ (siehe dort Tz. 32) plastisch:
Gegenstand des dortigen Nichtigkeitsverfahrens war eine Vorrichtung zum Herstellen von Rotorelementen. Diese weisen sogenannte Polabschnitte und sogenannte Grundkörper auf. Die Vorrichtung zur Herstellung dieser Rotorelemente wies eine Stanzanordnung auf. Auf einer rein philologischen Ebene war diese Stanzanordnung nach dem erteilten Anspruch mit einem ersten Stanzelement versehen, das – im ersten Zugriff – dem Ausstanzen von Teilen der Grundkörperabschnitte diente; ein zweites Stanzelement diente dem Ausstanzen des Polabschnitte. Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs ergab sich aus dem Gesamtinhalt der Beschreibung und aus den weiteren Patentansprüchen 2 – 6 jedoch, dass bei der Formulierung des erteilten Anspruches 1 Grundkörperabschnitte und Polabschnitte vertauscht worden waren (vgl. Tz. 18 und 22). Der Bundesgerichtshof kommt daher zu dem Ergebnis, dass der Anspruch abweichend vom Wortlaut dahin zu lesen ist, dass mit dem ersten Stanzelement zumindest Teile der Polabschnitte und mit dem zweiten Stanzelement die Grundkörperabschnitte zum Ausstanzen bereitgestellt werden (Tz. 18).
Demgemäß hält der BGH im Leitsatz fest: Bei der Ermittlung des Sinngehalts eines Patentanspruchs ist auch ein für sich genommen eindeutiger Wortlaut nicht ausschlaggebend, wenn die Auslegung des Anspruchs unter Heranziehung der Beschreibung und der weiteren Patentansprüche ergibt, dass zwei im Patentanspruch verwendete Begriffe gegeneinander auszutauschen sind. Zur Begründung führt der BGH aus (Tz. 16): Auch der Grundsatz, dass bei Widersprüchen zwischen Anspruch und Beschreibung der Anspruch Vorrang genießt, schließt nicht aus, dass sich aus der Beschreibung und den Zeichnungen ein Verständnis des Patentanspruchs ergibt, das von demjenigen abweicht, das der bloße Wortlaut des Anspruchs vermittelt. Funktion der Beschreibung ist es, die geschützte Erfindung zu erläutern. Im Zweifel ist daher ein Verständnis der Beschreibung und des Anspruchs geboten, das beide Teile der Patentschrift nicht in Widerspruch zueinander bringt, sondern sie als aufeinander bezogene Teile eines sinnvollen Ganzen versteht.
Damit knüpft der BGH an frühere Entscheidungen (BGH GRUR 2008, 887, Tz. 21 – Momentanpol II; BGH GRUR 2009, 653, Tz. 16 – Straßenbaumaschine) an, in denen er bereits ausgesprochen hatte, dass Fachleute bestrebt sind, einem Patent einen sinnvollen Gehalt zu entnehmen.
9. Die Entscheidung „Rotorelemente“ ist sicher von dem Umstand geprägt, dass der philologische Anspruchswortlaut des erteilten Anspruches dem technischen Sinngehalt der Beschreibung diametral gegenüberstand; dies mag den Bundesgerichtshof bewogen haben, hier eine „berichtigende Auslegung“ aus der Beschreibung heraus vorzunehmen. Die Entscheidung ist insoweit kein Einzelfall (vgl. Meier-Beck, GRUR 2012, 1177, 1181 mit Verweis auf BGH Mitt. 2002, 176 – Signal- und Gegensprechanlage). Als Resümee lässt sich festhalten, dass eine berichtigende Auslegung des Anspruches aus der Beschreibung heraus dann möglich ist, wenn es sich bei dem philologischen Wortlaut des Anspruchs angesichts des durch die Beschreibung vermittelten technischen Sinngehalts gleichsam um eine „offenbare Unrichtigkeit“ handelt. Entsprechend dem Erfordernis der Rechtssicherheit und dem Primat des Anspruchs wird daher sorgfältig zu prüfen sein, ob sich die Entscheidung „Rotorelemente“ über die entschiedene Fallkonstellation hinaus verallgemeinern lässt.