Der für das Designrecht zuständige I. Zivilsenat des BGH hat in der Entscheidung „Papierspender“ am 07.10.2020 (I ZR 137/19) entschieden, dass die Ansprüche, Beschreibungen und Zeichnungen einer Patentoffenlegungsschrift zu den für den Einzelfall maßgeblichen objektiven Umständen zählen, die nach der Entscheidung „doceram“ des EuGH (C-395/16) im Hinblick auf die Frage zu würdigen seien, ob Merkmale eines Designs ausschließlich technisch bedingt sind. Gleichwohl stellt der BGH fest, dass das Fehlen von Erwägungen zur visuellen Erscheinung des Erzeugnisses in einer Patentoffenlegungsschrift für sich genommen genauso wenig den Schluss auf die ausschließlich technische Bedingtheit eines Erscheinungsmerkmals wie das Vorhandensein von Erwägungen zu dessen technischer Funktion erlaube.
1. Der BGH hatte in der Rechtssache „Papierspender“ (I ZR 137/19) über die Frage zu entscheiden, ob das von der Klägerin geltend gemachte Gemeinschaftsgeschmacksmuster 001344022-0006 (Locarno 15.99: Verpackungsvorrichtung) mit den nachfolgend eingeblendeten Ansichten: (Bild im Newsletter ersichtlich)
ausschließlich technisch bedingte Erscheinungsmerkmale aufweist. Die Klägerin war zugleich Inhaberin eines Europäischen Patents für einen solchen Papierspender. Das Landgericht hatte der Klage, soweit hierüber noch nach einem Teilanerkenntnis der Beklagten zu entscheiden war, stattgegeben und die von der Beklagten gegen das Gemeinschaftsgeschmacksmuster erhobene Nichtigkeitswiderklage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hingegen wies im Berufungsverfahren die Klage ab und gab der Nichtigkeitswiderklage statt mit der Begründung, dass alle Erscheinungsmerkmale des Gemeinschaftsgeschmacksmusters ausschließlich technisch bedingt seien. Die Revision führte nun zur Aufhebung des Berufungsurteils durch den BGH und zur Zurückweisung des Verfahrens zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Oberlandesgericht.
2. Nach Art. 8 Abs. 1 VO (EG) 6/2002 (GGV) besteht ein Gemeinschaftsgeschmacksmuster nicht an Erscheinungsmerkmalen eines Erzeugnisses, die ausschließlich durch dessen technische Funktion bedingt Gemäß Art. 24 Abs. 1 Fall 2, Art. 25 Abs. 1 lit. b) GGV kann ein Gemeinschaftsgeschmacksmuster auf Widerklage im Verletzungsverfahren für nichtig erklärt werden, wenn es die Voraussetzungen des Art. 4 – 9 GGV nicht erfüllt. Vor diesem Hintergrund ist ein Gemeinschaftsgeschmacksmuster für nichtig zu erklären, wenn alle für den Gesamteindruck des Erzeugnisses bedeutsame Erscheinungsmerkmale ausschließlich durch dessen technische Funktion bedingt sind.
3. Im Hinblick auf Art. 8 Abs. 1 GGV hat der EuGH in der Entscheidung „doceram“ (Urteil v. 08.03.2018, C-395/16; z.B. GRUR 2018, 612) festgestellt, dass für die Beurteilung, ob Erscheinungsmerkmale eines Erzeugnisses ausschließlich durch dessen technische Funktion bedingt sind, zu ermitteln sei, ob diese Funktion der einzige diese Merkmale bestimmende Faktor sei (EuGH a.a.O. Rn. 32). Ein geschmacksmusterrechtlicher Schutz für Erscheinungsmerkmale eines Erzeugnisses scheide danach aus, wenn Erwägungen anderer Art als das Erfordernis, dass dieses Erzeugnis seine technische Funktion erfüllt, bei der Entscheidung für diese Merkmale keine Rolle gespielt habe, und zwar auch dann, wenn es andere Geschmacksmuster gäbe, mit denen sich dieselbe Funktion erfüllen lasse (EuGH a.a.O. Rn. 31).
Die Existenz alternativer Gestaltungsmöglichkeiten allein steht somit dem Schutzausschluss nach Art. 8 Abs. 1 GGV nicht entgegen. Denn anderenfalls könne, so der EuGH, ein Wirtschaftsteilnehmer mehrere denkbare Formen eines Erzeugnisses, das ausschließlich durch dessen technische Funktion bedingte Erscheinungsmerkmale aufweise, als Gemeinschaftsgeschmacksmuster eintragen lassen und von einem aus praktischer Sicht ausschließlichen Schutz profitieren, der einem Patentschutz gleichkäme, ohne den für die Erlangung eines Patents geltenden Voraussetzungen zu unterliegen (EuGH a.a.O. Rn. 30).
Es kommt also nach der Entscheidung „DOCERAM“ des EuGH darauf an, ob die Erscheinungsmerkmale eines Erzeugnisses bei objektiver Beurteilung nur mit dem Ziel gewählt wurden, dass dieses Erzeugnis eine bestimmte technische Funktion erfüllen soll. Hierbei ist auf die objektiven Umstände abzustellen, aus denen die Motive für die Wahl der Erscheinungsmerkmale deutlich werden, auf Informationen über die Verwendung des Erzeugnisses oder auch das Bestehen alternativer Geschmacksmuster, mit denen sich dieselbe technische Funktion erfüllen lässt (EuGH a.a.O. Rn. 37).
4. Der BGH stellt hierzu in der Entscheidung „Papierspender“ (I ZR 137/19) zunächst klar, dass es auf einen „ästhetischen Überschuss“ nicht ankomme, insoweit hiermit eine besondere Gestaltungshöhe verbunden sei, weil diese nicht zu den Schutzvoraussetzungen eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters gehöre. Es komme vielmehr lediglich darauf an, ob Erwägungen anderer Art als das Erfordernis, dass das Erzeugnis seine technische Funktion erfülle, insbesondere solche, die mit der visuellen Erscheinung zusammenhängen, bei der Entscheidung für die Erscheinungsmerkmale eines Erzeugnisses keine Rolle gespielt hätten (Tz. 12).
5. Das Oberlandesgericht hatte im Berufungsverfahren ausgeführt, dass ein Indiz für die technische Bedingtheit der Erscheinungsmerkmale bereits sei, dass die Merkmale zugleich Bestandteile des von der Klägerin beanspruchten Europäischen Patents seien (Tz. 15). Eine andere Bewertung ergab sich für das Oberlandesgericht auch nicht durch die Darstellung des Papierspenders in der Werbung der Klägerin. Es liege fern, so das Oberlandesgericht, dass die Abnehmer an einer ästhetisch anspruchsvollen Gestaltung des Papierspenders interessiert seien. Die technische Funktionalität komme auch in den Werbeprospekten zum Ausdruck, die nicht auf eine ansprechende Gestaltung Bezug nähmen, sondern sich allein mit den technischen Vorteilen befassten (Tz. 16). Der Umstand, dass es gangbare Formalternativen gäbe, sei nach der Rechtsprechung des EuGH ebenfalls unerheblich (Tz. 17).
6. Der BGH folgt dieser Argumentation des Oberlandesgerichts nicht und konstatiert, dass das Oberlandesgericht der Patentoffenlegungsschrift der Klägerin ein zu großes indizielles Gewicht beigemessen habe und weitere Umstände unberücksichtigt gelassen habe (Tz. 20).
Unter Verweis auf die ältere Entscheidung „Laternenflasche“ (BGH, Urteil v. 09.02.1966; Ib ZR 13/64; z.B. GRUR 1966, 681) führt der BGH zunächst aus, dass es der Schutzfähigkeit eines Erzeugnisses als Geschmacksmuster grundsätzlich nicht entgegenstehe, dass für dasselbe Erzeugnis ein technisches Schutzrecht beantragt oder erteilt wurde (Tz. 24).
Sodann führt der BGH fort, dass es angesichts der Aufgabe einer Patentanmeldung, die technische Funktion des Erzeugnisses zu erläutern, Erwägungen, die mit der visuellen Erscheinung einzelner Erscheinungsmerkmale zusammenhängen, in einer Patentoffenlegungsschrift weder notwendig noch per se ausgeschlossen seien. Daher erlaube das Fehlen von Erwägungen zur visuellen Erscheinung eines Erzeugnisses in einer Patentoffenlegungsschrift für sich genommen genauso wenig den Schluss auf die ausschließlich technische Bedingtheit eines Erscheinungsmerkmals wie das Vorhandensein von Erwägungen zu dessen technischer Funktion. Vielmehr sei in beiden Fällen zu prüfen, ob außerhalb der Patentoffenlegungsschrift liegende objektive Umstände auf eine visuelle Bedingtheit des betreffenden Erscheinungsmerkmals hindeuteten (Tz. 28).
7. Der BGH stellt fest, dass das Oberlandesgericht unzutreffend von einem Regel-Ausnahme-Verhältnis dergestalt ausgegangen sei, dass aus der in einer Patentoffenlegungsschrift enthaltenen technischen Begründung für ein Erscheinungsmerkmal ein durch andere Umstände zu entkräftendes Indiz für die ausschließliche technische Bedingtheit des Erscheinungsmerkmals folge (Tz. 30). Zudem habe das Oberlandesgericht unzutreffend die ausschließlich technische Bedingtheit allein bereits aufgrund der Angaben in der Patentoffenlegungsschrift zu dem streitgegenständlichen Erzeugnis bejaht. Die Angaben in der Patentoffenlegungsschrift der Klägerin könnten zwar zu der Annahme führen, die Erscheinungsmerkmale des Gemeinschaftsgeschmacksmusters seien durch dessen technische Funktion bedingt, nicht aber die Annahme, sie seien ausschließlich dadurch bedingt (Tz. 31).
8. Der BGH stellt weiter klar, dass das Bestehen alternativer Geschmacksmuster, mit denen sich dieselbe technische Funktion erfüllen lässt, nach der Rechtsprechung des EuGH grundsätzlich einen berücksichtigungsfähigen Umstand im Rahmen der nach Art. 8 Abs. 1 GGV vorzunehmenden objektiven Gesamtabwägung darstelle. Lediglich für sich genommen reiche die Existenz alternativer Geschmacksmuster nicht aus, um die Anwendung des Art. 8 Abs. 1 GGV auszuschließen (Tz. 39).
9. Durch die Entscheidung „Papierspender“ (I ZR 137/19) hat der BGH die Kernaussagen der EuGH-Entscheidung „DOCERAM“ (C-395/16) weiter konkretisiert und insbesondere klargestellt, dass ein paralleles Patent oder Gebrauchsmuster zwar ein Indiz für die technische Bedingtheit eines Erzeugnismerkmals darstellen kann, jedoch weitere objektive Umstände hinzukommen müssen, um eine ausschließlich technische Bedingtheit dieses Merkmals im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GGV bzw. für nationale Designs im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 DesignG zu begründen.