Das Gericht der Europäischen Union (EuG) hat in seiner Entscheidung vom 24.01.2024 in einem seit Jahren währenden Rechtstreit zwischen der deutschen Firma Delta Sport Handelskontor GmbH, eine Großhändlerin für u.a. Spielzeug, und der dänischen Firma Lego A/S die Schutzfähigkeit eines bestimmten Legosteins als eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster bestätigt und gibt neue Leitlinien zur Auslegung der Ausnahmeregel in Art. 8 Abs. 3 GGV. Hiernach können Erzeugnisse innerhalb eines modularen Systems als Gemeinschaftsgeschmacksmuster Schutz genießen trotz ihrer Eigenschaft als sog. „must-fit“-Teil.
1. Neben dem Schutzausschluss technisch bedingter Erscheinungsmerkmale eines Designs nach Art. 8 Abs.1 GGV besteht nach Art. 8 Abs. 2 GGV kein Schutz für ein Design an Erscheinungsmerkmalen eines Erzeugnisses, die zwangsläufig in ihrer genauen Form und ihren genauen Abmessungen nachgebildet werden müssen, damit das Erzeugnis mit einem anderen Erzeugnis mechanisch verbunden oder an diesem angebracht werden kann, sodass beide Erzeugnisse ihre Funktion erfüllen können („must-fit“-Teil).
Eine Ausnahme von dem Schutzausschluss für „must-fit“-Teile besteht nach Art. 8 Abs. 3 GGV für Erzeugnisse, welche (i) die Voraussetzungen der Neuheit (Art. 5 GGV) und Eigenart (Art. 6 GGV) erfüllen und (ii) dem Zweck dienen, den Zusammenbau oder die Verbindung einer Vielzahl von untereinander austauschbaren Erzeugnissen innerhalb eines modularen Systems zu ermöglichen. Entsprechende Regelungen finden sich für nationale deutsche Designs in den §§ 3 Abs. 1 Nr. 2; 3 Abs. 2 DesignG.
2. Delta Sport Handelskontor beantragte 2016 die Nichtigerklärung eines für Lego eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters für einen Legostein mit nur einer Noppenreihe:
(Abbildung im Newsletter dargestellt)
Zur Begründung führte der Nichtigkeitsantrag an, dass sämtliche Erscheinungsmerkmale des Legosteins ausschließlich durch seine technische Funktion bedingt seien und ein Schutz als Gemeinschaftsgeschmacksmuster daher nach Art. 8 Abs. 1 GGV ausgeschlossen sei. Die Nichtigkeitsabteilung des EUIPO wies den Antrag zurück.
Die Beschwerdekammer des EUIPO gab dem Nichtigkeitsantrag zunächst statt (Az. R 31/2018-3). Die technische Funktion, die der Legostein erfüllen müsse, bestehe darin, dass er mit ausreichender Stabilität mit anderen Legosteinen zusammengefügt werden könnte, um ein Spielzeuggebäude zu schaffen. Dieser technischen Funktion seien sämtliche Erscheinungsmerkmale des Legosteins geschuldet (Tz. 8).
Mit Urteil vom 24.03.2021 ([Bausteine eines Spielzeugbaukastens I], Az. T-515/19) hob das EuG die Entscheidung der Beschwerdekammer auf. Es stellte fest, dass die Beschwerdekammer gegen Art. 8 Abs. 3 GGV verstoßen hatte, weil sie nicht geprüft hatte, ob das angefochtene Gemeinschaftsgeschmacksmuster unter die Ausnahme zum Schutz modularer Systeme falle, worauf sich Lego zuvor berufen hatte. Darüber hinaus stellte das EuG fest, dass die Beschwerdekammer auch gegen Art. 8 Abs. 1 GGV verstoßen hatte, in dem sie nicht die glatte Oberfläche des angegriffenen Legosteins berücksichtigt hatte und nicht dargelegt wurde, dass dieser eine ausschließlich technische Funktion zukomme (Tz. 13 f.).
Nach Zurückweisung des Verfahrens an das EUIPO entschied die Beschwerdekammer zugunsten von Lego und wies den Nichtigkeitsantrag ab (Az. R 1524/2021-3). Sie stellte fest, dass selbst wenn alle Erscheinungsmerkmale des Legosteins, einschließlich der glatten Oberfläche, ausschließlich technisch bedingt seien, sei das Gemeinschaftsgeschmacksmuster dennoch rechtsbeständig, da es unter die Ausnahmeregelung für modulare Systeme des Art. 8 Abs. 3 GGV fiele. Die Ausnahmeregelung des Art. 8 Abs. 3 GGV sei anzuwenden, da der Legostein ein „must-fit“-Teil im Sinne des Art. 8 Abs. 2 GGV darstelle (Tz. 16).
Diese Entscheidung der Beschwerdekammer wurde nun vom EuG bestätigt. Gegen die Entscheidung des EuG besteht für Delta Sport Handelskontor noch die Möglichkeit eines Rechtsmittels zum EuGH, das jedoch gemäß Art. 58a der Satzung des EuGH auf Antrag nur dann zugelassen wird, wenn eine für die Einheit, die Kohärenz oder die Entwicklung des Unionsrechts bedeutsame Frage durch das Verfahren aufgeworfen wird.
3. Das EuG führt aus (vgl. Tz. 25 ff.), dass die Beschwerdekammer zurecht geprüft habe, ob das angefochtene Gemeinschaftsgeschmacksmuster ein „must-fit“-Teil im Sinne des Art. 8 Abs. 2 GGV darstelle und damit die Ausnahmeregel für modulare Systeme nach Art. 8 Abs. 3 GGV zur Anwendung kommen könne, obwohl der Nichtigkeitsantrag nur mit der technischen Bedingtheit aller Erscheinungsmerkmale des Legosteins im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GGV begründet wurde. Denn zur Wahrung der Wirksamkeit der Ausnahmeregel des Art. 8 Abs. 3 GGV sei vom EUIPO selbständig zu prüfen, ob ein angefochtenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster ein „must-fit“-Teil im Sinne des Art. 8 Abs. 2 GGV darstelle, wenn sich der Inhaber des angefochtenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters auf die Ausnahme für modulare Systeme im Sinne des Art. 8 Abs. 3 GGV berufe (Tz. 31). Sofern die Ausnahmeregelung für modulare Systeme nach Art. 8 Abs. 3 GGV greife, dürfe das angegriffene Gemeinschaftsgeschmacksmuster nicht für nichtig erklärt werden, auch wenn seine Merkmale ausschließlich technisch bedingt im Sinne von Art. 8 Abs. 1 GGV seien (Tz. 33).
Ferner führt das EuG aus, dass nach den Feststellungen der Beschwerdekammer die glatte Oberfläche des angegriffenen Legosteins nicht ausschließlich technisch bedingt im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GGV sei (Tz. 35). Dies Feststellung gelte entsprechend für Art. 8 Abs. 2 GGV, sodass ein Gemeinschaftsgeschmacksmuster nur dann für nichtig erklärt werden könne, wenn alle seine Erscheinungsmerkmale unter den Schutzausschluss für „must-fit“-Teile fielen (Tz. 36). Wenn jedoch mindestens ein Erscheinungsmerkmal des Gemeinschaftsgeschmacksmusters schutzfähig sei, insbesondere aufgrund der Ausnahmeregel des Art. 8 Abs. 3 GGV, sei das Gemeinschaftsgeschmacksmuster rechtsbeständig (Tz. 37).
4. Im Hinblick auf die Beweislastverteilung für die Voraussetzungen der Ausnahmeregelung in Art. 8 Abs. 3 GGV stellt das EuG klar (Tz. 45 ff.), dass für den Nachweis der Neuheit und Eigenart des angefochtenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters nicht dessen Inhaber beweispflichtig sei, sondern ausgehend von der Vermutung der Rechtsbeständigkeit eines eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters der Antragsteller eines Nichtigkeitsantrags konkrete Nachweise vorlegen müsse, die das Fehlen von Neuheit und Eigenart belegten.
Das System der GGV, so das EuG, beruhe auf dem Grundsatz, dass alle Anmeldungen, die die formalen Voraussetzungen erfüllen, in das Register für Gemeinschaftsgeschmacksmuster eingetragen werden müssten. Hieraus folge, dass ein eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster nur dann für ungültig erklärt werden könne, wenn ein Antrag auf Nichtigerklärung gestellt würde (vgl. Tz. 55). Bekräftigt würde dieser Grundsatz dadurch, dass Art. 85 GGV die Vermutung der Rechtsbeständigkeit für Gemeinschaftsgeschmacksmuster im Rahmen einer Verletzungsklage ausdrücklich festlege (Tz. 58). Wäre der Inhaber eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters im Rahmen der Prüfung der Ausnahmeregelung für modulare Systeme nach Art. 8 Abs. 3 GGV verpflichtet, die Voraussetzungen der Neuheit und Eigenart seines Gemeinschaftsgeschmacksmusters nachzuweisen, widerspreche dies der Logik der GGV und die Vermutung der Rechtsbeständigkeit eines eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmuster würde unterlaufen (Tz. 61).
Ferner sei zu berücksichtigen, dass Neuheit und Eigenart eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters im Rahmen eines Einzelvergleichs zu einem konkreten Design aus dem Formenschatz zu prüfen sei. Wäre der Inhaber eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters verpflichtet im Rahmen der Ausnahmeregelung des Art. 8 Abs. 3 GGV die Neuheit und Eigenart seines Gemeinschaftsgeschmacksmusters nachzuweisen, liefe dies darauf hinaus, dass dem Inhaber ein Negativbeweis obliege, der unmöglich bzw. nur sehr schwer zu führen sei (probatio diabolica) (Tz. 65).
Vor diesem Hintergrund ergebe sich auch, dass die Offenbarung eines älteren Designs nicht als eine allgemein bekannte Tatsache angesehen werden könne, selbst wenn die Produkte, in die das angefochtene Gemeinschaftsgeschmacksmuster integriert würden, schon länger auf dem Markt präsent und der Öffentlichkeit allgemein bekannt seien (Tz. 88). Vielmehr sei es von wesentlicher Bedeutung, dass der Antragsteller eines Nichtigkeitsantrags ein konkretes und definiertes älteres Design vorlege, um die Prüfung der Neuheit und Eigenart im Wege eines Einzelvergleichs zu ermöglichen (Tz. 89).
5. Die Entscheidung des EuG ist bemerkenswert vor dem Hintergrund der Entscheidung des EuGH vom 14.09.2010 (Az. C-48/09 P [z.B. GRUR 2010, 1008]), in der die Eintragung eines Legosteins als Gemeinschaftsmarke (heute: Unionsmarke) im Rahmen eines Nichtigkeitsverfahrens gelöscht wurde mit der Begründung, dass seine Merkmale ausschließlich technisch bedingt seien im Sinne von Art. 7 Abs. 1 lit. e Ziff. ii der Verordnung (EG) Nr. 40/94 (heute: Art. 7 Abs. 1 lit. e Ziff. ii UMV). Auch der BGH hat die Eintragung eines Legosteins als deutsche Marke im Rahmen eines Nichtigkeitsverfahrens gelöscht (vgl. BGH, Beschl. v. 16.07.2009, I ZB 53/07 – Legostein [z.B. GRUR 2010, 231]).
Hintergrund ist, dass die Rechtslage zum Schutzausschluss technisch bedingter Merkmale im Markenrecht nicht unmittelbar auf den Schutzausschluss nach Art. 8 GGV übertragen werden kann, da sich die Schutzrechte hinsichtlich Natur, Umfang und Dauer unterscheiden. Das Designrecht dient dem Schutz der Erscheinungsform eines Erzeugnisses, denen insbesondere eine Gebrauchsfunktion zukommt. Hierbei kann auch die ästhetische Umsetzung technischer Vorgaben schutzwürdig sein. Das Markenrecht dient demgegenüber dem Schutz von Herkunftszeichen. Dies sind in erster Linie Wort- oder Bildmarken; der Schutz der ästhetischen Gestaltung eines Erzeugnisses ist hierfür nicht zwingend notwendig. Zwar besteht im Markenrecht die Möglichkeit der Eintragung einer 3D-Marke. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass der Verkehr aus der Form einer Ware oder ihrer Verpackung regelmäßig nicht auf die Herkunft der Ware schließt, sodass wirksamer Markenschutz für eine Warenform grundsätzlich nur dann in Betracht kommt, wenn diese erheblich von der Norm oder Branchenüblichkeit abweicht (vgl. z.B. EuGH, Urteil vom 07.05.2015, C-445/13 P, Tz. 91 – Voss of Norway/HABM [z.B. GRUR-RS 2015, 80606]).