Mit Urteil vom 12.09.2019 hat das Bundesverwaltungsgericht, Az. 3 C 3.18, die Urteile des Verwaltungsgerichts Köln vom 22. September 2015, Az. 7 K 6109/14, und des Oberverwaltungsgerichts NRW vom 17.2.2017, Az. 13 A 2505/15, abgeändert und entschieden:
„Es wird festgestellt, dass die Aufrechterhaltung der Verschreibungspflicht für Desloratadin auch zur oralen Anwendung in den Indikationen allergischer Rhinitis und Urtikaria bei Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern ab zwei Jahren in Anlage 1 der Arzneimittelverschreibungsverordnung die Klägerin in ihren Rechten verletzt.“
Der Grundsatzstreit über Voraussetzungen und Zeitpunkt der Entlassung eines Wirkstoffs auf nationaler Ebene aus der Verschreibungspflicht begann im Jahr 2013 und zog sich bis Herbst 2019 hin, weil beide Gerichte der Vorinstanzen sowohl die Berufung zum Oberverwaltungsgericht, als auch die Revision zum Bundesverwaltungsgericht nicht zugelassen hatten und sich Hexal mit Preu Bohlig jedes Mal die höhere Instanz per Nichtzulassungsbeschwerde erstreiten musste.
Umso erfreulicher ist die Stärkung der verfassungsrechtlich garantierten Rechte des Arzneimittelherstellers durch diese Entscheidung.
Diese positive rechtskräftige Entscheidung in dritter Instanz zugunsten der Hexal wird weitreichende Folgen haben für den OTC Switch, das Verfahren mit welchem verschreibungspflichtige Arzneimittel für den freien Verkauf entlassen werden.
Hexal ist Zulassungsinhaberin zweier national zugelassener Arzneimittel mit dem Wirkstoff Desloratadin.
Alle zentral und in Deutschland national zugelassenen Arzneimittel mit dem Wirkstoff Desloratadin sind bislang verschreibungspflichtig.
Hinsichtlich der Arzneimittel, die im zentralen Verfahren nach der VO (EG) Nr. 726/2004 zugelassen sind, wird im europäischen Zulassungsverfahren auch über den Verschreibungsstatus entschieden. Gleichermaßen erfolgt die Entlassung eines zentral zugelassenen Arzneimittels aus der Verschreibungspflicht auf europäischer Ebene in Anwendung der „Guideline on Changing the Classification for the Supply of a Medicinal Product for Human Use“.
Die Verschreibungspflicht für in Deutschland national zugelassene Arzneimittel ist in § 48 AMG und dem dort vorgesehenen Verordnungsverfahren geregelt. Verschreibungspflichtige Wirkstoffe finden sich allesamt in Anlage 1 der Verordnung über die Verschreibungspflicht von Arzneimitteln (AMVV), die vom Bundesministerium für Gesundheit im Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates, erlassen und geändert wird. Durch Rechtsverordnung werden Stoffe in den Anhang 1 aufgenommen oder wieder gestrichen und damit Wirkstoffe unter die Verschreibungspflicht gestellt, oder aus der Verschreibungspflicht entlassen.
Nach wie vor ist Desloratadin in Anhang 1 der AMVV gelistet und damit sind national zugelassene Arzneimittel mit dem Wirkstoff Desloratadin verschreibungspflichtig.
Die erstmalige Zulassung von Desloratadin ist am 15.01.2001 erfolgt, so dass es sich bei Desloratadin um einen Stoff handelt, dessen Wirkungen und Nebenwirkungen bekannt und aus dem wissenschaftlichen Erkenntnismaterial seit über 10 Jahren ersichtlich sind.
Darüber hinaus handelt es sich ausweislich des Votums des Sachverständigenausschusses für Verschreibungspflicht vom 25.06.2013 weder um einen Stoff, der die Gesundheit bei bestimmungsgemäßen Gebrauch gefährden kann, wenn er ohne ärztliche Überwachung angewendet wird, noch liegt ein häufiger Fehlgebrauch vor, weshalb in der 70. Sitzung des Sachverständigenausschusses für Verschreibungspflicht am 25.06.2013 die Entlassung des Wirkstoffs Desloratadin zur oralen Anwendung mit den Indikationen „Allergische Rhinitis“ und „Urtikaria“ in einer Einzeldosis von 5 mg, 1,25 mg, 2,5 mg und in einer Tageshöchstdosis von 5 mg beschlossen wurde.
Das BMG weigerte sich jedoch, das Votum des Sachverständigenausschusses umzusetzen mit dem Argument, dass die Umsetzung des Votums des Sachverständigenausschusses für Verschreibungspflicht bedeuten würde, dass die Entlassung aus der Verschreibungspflicht nur für die national zugelassenen Arzneimittel wirksam würde. Da die zentral zugelassenen Arzneimittel nur von der EU-Kommission aus der Verschreibungspflicht entlassen werden können, wäre dies der Öffentlichkeit nicht zu vermitteln. Zur Verhinderung eines gespaltenen Marktes würde auf die Umsetzung des Votums solange verzichtet, bis die Verschreibungspflicht für die von der EU-Kommission zugelassenen Desloratadin-haltigen Arzneimittel aufgehoben werde.
Unterschiede in der Verschreibungspflicht in den einzelnen Mitgliedstaaten und für national und EU-weit zugelassene Arzneimittel auf einem einheitlichen Markt sind jedoch bereits systemimmanent in der RL 2001/83/EG angelegt, wie beispielsweise Artikel 74 a der Richtlinie zeigt. Nach dieser Vorschrift ist es tatsächlich nicht ungewöhnlich, sondern vom Richtliniengeber gewollt, dass während eines Zeitraumes von einem Jahr nach Genehmigung der ersten Änderung der Einstufung eines Präparates als verschreibungspflichtig/nicht verschreibungspflichtig, andere Präparate weiterhin ein Jahr lang mit der anderen Einstufung in den Verkehr gebracht werden. Zudem ist die Öffentlichkeit an Unterschiede im Verschreibungsstatus bei wirkstoff- und indikationsgleichen Präparaten gewohnt und die dauerhaft parallele Vermarktung verschreibungspflichtiger und nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel mit identischem Wirkstoff und nur geringen Unterschieden in Indikation oder gar nur in der Packungsgröße durchweg bekannt.
Mit der jetzigen Feststellung des Bundesverwaltungsgerichts, dass Hexal durch die Aufrechterhaltung der Verschreibungspflicht für Desloratadin auch zur oralen Anwendung in den Indikationen allergischer Rhinitis und Urtikaria bei Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern ab zwei Jahren in Anlage 1 der Arzneimittelverschreibungsverordnung in ihren Rechten verletzt ist, ist die Auflistung von Desloratadin in der Anlage 1 der AMVV nicht mehr zu rechtfertigen, sodass die Verschreibungspflichtverordnung im Hinblick auf die Listung von Desloratadin in Anlage 1 zu ändern ist.
Erfreulich deutlich hat das Bundesverwaltungsgericht zunächst herausgearbeitet, dass in dem vorliegend zu entscheidenden Sachverhalt das Begehren der Klägerin mit einer gegen den Normgeber der Arzneimittelverschreibungsverordnung gerichteten Feststellungsklage verfolgt werden kann und somit die erhobene Feststellungsklage zulässig ist. Während das Verwaltungsgericht Köln noch von einer Zulässigkeit aber Unbegründetheit der Klage ausgegangen war, hatte das OVG NRW bereits die Zulässigkeit mit teils verwunderlichen Konstruktionen verneint. Dem hat das Bundesverwaltungsgericht erfreulich deutlich eine Absage erteilt.
Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts sähe das Arzneimittelgesetz für die begehrte Änderung einer bestehenden Verschreibungspflicht kein Verfahren im Verhältnis zu einem Normanwender vor, auf das die Klägerin zur Durchsetzung ihrer Rechte vorrangig verwiesen werden könne.
Insbesondere sei der Klägerin jedenfalls nicht zuzumuten, die Klärung verwaltungsrechtlicher Zweifelsfragen in einem Straf- oder Bußgeldverfahren von der Anklagebank aus betreiben zu müssen, was das OVG NRW als Möglichkeit angesehen hatte.
Auch ein verwaltungsrechtliches Verfahren auf Vollzugsebene könne die Klägerin ihrem Begehren nicht näherbringen, da den Überwachungsbehörden nach § 69 AMG nicht die Befugnis zukommt, dass streitige Verhalten zu erlauben.
Entsprechendes gelte auch für den vom Berufungsgericht angesprochenen Vollzugsstreit über eine Auflage nach § 28 AMG zur Sicherung der Kennzeichnungspflicht. Eine derartige Auflage diene nur der Umsetzung einer auf der Zulassungsebene getroffenen Entscheidung.
Es könne zwar ein Rechtsverhältnis zur Zulassungsbehörde begründet werden, was aber ebenfalls nicht die vorliegende Fallgestaltung erfasst. Die Klägerin könne daher auch in einem derartigen Verfahren ihr Rechtsschutzbegehren nicht erreichen. Insoweit hat das Bundesverwaltungsgericht deutlich herausgearbeitet, dass die angestrebte Änderung der Verschreibungspflicht nicht im Anwendungsbereich von § 29 AMG liegt.
Im Übrigen sei auch die Beklagte offenkundig der Auffassung gewesen, dass das Arzneimittelgesetz für die begehrte Änderung der Verschreibungspflicht eines zugelassenen Arzneimittels kein Verwaltungsverfahren im Verhältnis zu der Zulassungsbehörde oder den Überwachungsbehörden vorsieht. Schließlich habe sie den an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte gerichteten Antrag der Klägerin an sich gezogen.
Deutlich stellt das Bundesverwaltungsgericht zur Zulässigkeit der Klage fest, dass effektiver Rechtsschutz für die begehrte Änderung einer bestehenden Verschreibungspflicht nur im Rechtsverhältnis zum Normgeber gewährt werden kann. Auf mittelbare Verfahrenswege, die im Arzneimittelgesetz nicht angelegt sind und im Verwaltungsverfahren selbst nie zum Erfolg führen können, müsse sich die Klägerin nicht vorrangig verweisen lassen.
Gleichermaßen erfreulich deutlich positioniert sich das Bundesverwaltungsgericht auch zur Begründetheit der Feststellungsklage. Insbesondere könne das Bundesverwaltungsgericht auch in der Sache entscheiden, weil der Rechtsstreit spruchreif ist.
Der dem Verordnungsgeber zukommende Spielraum bei der Entscheidung über die Aufrechterhaltung einer bestehenden Verschreibungspflicht sei auf die vom Gesetzgeber vorgegebenen Kriterien beschränkt und bezogen. Weder die von der Beklagten vorgebrachten Gesichtspunkte noch sonst ersichtliche Erwägungen rechtfertigten danach die einschränkungslose Beibehaltung der Verschreibungspflicht für Arzneimittel mit dem Wirkstoff Desloratadin.
§ 48 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AMG spiegelt die Anordnungsvoraussetzungen für die Aufhebung als actus contrarius, so dass maßgeblich ist, ob ein Arzneimittel die Gesundheit des Menschen gefährden kann, wenn es ohne ärztliche Überwachung angewendet wird. Ausdrücklich hat das Bundesverwaltungsgericht festgestellt, dass entgegen der Auffassung der Beklagten der Gesetzgeber ihr kein hierüber hinausgehendes „freies Ermessen“ zur Berücksichtigung weiterer Belange eingeräumt hat. Dem Verordnungsgeber kommt kein originäres Normsetzungsrecht zu. Seine Befugnis beruht alleine auf dem ihn ermächtigenden Gesetz.
Die von der Beklagten angebrachten Argumente, weshalb Desloratadin weiterhin der Verschreibungspflicht unterliegen solle, entsprächen allesamt der Systematik des Arzneimittelrechts. Sie seien Folge der fehlenden Vollharmonisierung im Bereich des Arzneimittelrechts und lassen Gesundheitsgefährdungen nicht besorgen. Gleiches gelte für mittelbare Folgen, die sich aus der Anknüpfung an die Verschreibungspflicht im Erstattungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung ergeben könnten.
Zutreffend stellt das Bundesverwaltungsgericht fest, dass nicht ersichtlich ist, warum sich aus der Zweigleisigkeit des Arzneimittelsystems in der Europäischen Union an sich Gesundheitsgefährdungen im Sinne des § 48 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AMG ergeben sollten.
Vorliegend ist mit der Entscheidung vom 12.09.2019 festgestellt, dass die Aufrechterhaltung der Verschreibungspflicht für Desloratadin zur oralen Anwendung in den Indikationen allergische Rhinitis und Urtikaria bei Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern ab zwei Jahren in Anlage 1 der Arzneimittelverschreibungsverordnung Hexal in ihren Rechten verletzt. Diese Feststellung beinhaltet zugleich die Verpflichtung des BMG, Desloratadin aus der Anlage 1 der Arzneimittelverschreibungsverordnung zu streichen, denn anderenfalls wäre Hexal weiterhin in ihren Rechten verletzt. Dies wäre ein Verstoß gegen die verfassungsrechtlich in Art. 19 Abs. 4 GG verankerte zwingende Forderung einer effektiven Umsetzung rechtskräftiger verwaltungsgerichtlicher Urteile.
Es steht zu erwarten, dass das BMG die verwaltungsgerichtliche Entscheidung anstandslos und umfassend befolgt und dementsprechend die Anlage 1 ändert und sich nicht wie dies in jüngster Zeit – beispielsweise in Bayern – erfolgte, einfach darüber hinwegsetzt. Der Gesetzgeber der VwGO, die am 1.4.1960 in Kraft trat, ging davon aus, dass es zur Erfüllung eines Urteils durch die Behörde nicht mehr bedarf, als eines drohenden Fingerzeigs. Selbstverständlich sei, so die Annahme, dass alle Träger öffentlicher Gewalt, also auch Behörden, gerichtliche Entscheidungen respektieren und freiwillig ihren Verpflichtungen nachkommen . Nichts desto trotz hat der Gesetzgeber in weiser Voraussicht auch eine Vollstreckung gegen Behörden über die Verweisung von § 167 VwGO auf die Regeln der ZPO vorgesehen um einen lückenlosen Rechtsschutz zu gewährleisten .
So sah sich kürzlich der VGH München, Beschluss vom 9. November 2018, Aktenzeichen 22 C 18.1718, dazu veranlasst, dem EuGH eine Vorlagefrage zur Zwangshaft wegen Nichterfüllung eines rechtskräftigen Urteils vorzulegen . In diesem Fall steht die Richtigkeit des rechtskräftigen Urteils des Verwaltungsgerichts München vom 9. Oktober 2012 seit einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 27.2.2018, Aktenzeichen 7 C 26.16, fest. Nichtsdestotrotz erklärte der Ministerpräsident Bayerns im Landtag, dass man das Urteil nicht erfüllen werde. In seiner EuGH Vorlage stellte der VGH München daher fest, dass sich der Freistaat sowohl gegenüber den Gerichten als auch öffentlich, und dies durch seinen ranghöchsten politischen Amtsträger, festgelegt habe, die gerichtlich auferlegten Pflichten nicht zu erfüllen und zwischenzeitlich mehrere Zwangsgeld-Androhungen und -Festsetzungen fruchtlos geblieben sind. Erfreulich deutlich hat sich der VGH München in seinem Beschluss positioniert, dass diese gezielte Missachtung rechtskräftiger gerichtlicher Entscheidungen durch die vollziehende Gewalt nicht hingenommen werden könne.