In einem äußerungsrechtlichen Konflikt zwischen zwei Polizeigewerkschaften hatte die eine die andere abgemahnt. Die abmahnende Gewerkschaft hatte anschließend einen Verfügungsantrag gestellt. Diesem Verfügungsantrag war zwar die Erwiderung der abgemahnten Gewerkschaft beigefügt, nicht aber deren umfangreiche Anlagen. Ferner hat die Verfügungsklägerin ihren Sachvortrag im Verfügungsantrag ausgebaut und auch noch hilfsweise auf andere Äußerungen erstreckt, die zuvor nicht Gegenstand der Abmahnung gewesen waren. Das Landgericht erließ die Beschlussverfügung ohne Anhörung, wobei es den ursprünglich gestellten Antrag zurückwies und dem Hilfsantrag teilweise stattgab.
Im Ergebnis hat das BVerfG wegen der mangelnden Anhörung des Antragsgegners die Vollziehung des Verfügungsbeschlusses ausgesetzt.
Aus früheren Entscheidungen (insbesondere 1 BvR 1783/17) war bekannt, dass das BVerfG auch im Verfügungsverfahren (mit sehr wenigen Ausnahmen, in denen sonst der Zweck des Verfügungsverfahrens vereitelt würde) eine Gewährung rechtlichen Gehörs fordert. Dies kann im Verfügungsverfahren, beispielsweise durch eine Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme oder durch eine mündliche Verhandlung geschehen. Das BVerfG sieht aber auch die Möglichkeit vor, die Anhörung vorzuverlagern, indem beispielsweise der Gläubiger vor der Einleitung gerichtlicher Schritte abmahnt und der Schuldner auf die Abmahnung erwidert.
Damit Abmahnung und Antwortschreiben als vorverlagerte Anhörung dem Gebot des rechtlichen Gehörs genügen, ist es nach dem BVerfG erforderlich, dass
Nicht ausreichend ist, wenn die Abmahnung nicht der gebotenen Form genügt oder der Antrag anders als in der Abmahnung oder mit ergänzendem Vortrag begründet wird.
Ferner ist eine Anhörung geboten, wenn das Gericht dem Antragsteller Hinweise nach § 139 ZPO erteilt, von denen der Antragsgegner sonst nicht oder erst nach Erlass einer Beschlussverfügung erfährt. Das BVerfG brachte es auf dem Punkt: „Ein einseitiges Geheimverfahren über einen mehrwöchigen Zeitraum, in dem sich Gericht und Antragsteller über Rechtsfragen austauschen, ohne den Antragsgegner in irgendeiner Form einzubeziehen, ist mit den Verfahrensgrundsätzen des Grundgesetzes jedenfalls unvereinbar“.
Mit der vorliegenden Entscheidung bestätigt das BVerfG diese Grundsätze und stellt klar, dass im Fall einer vorangegangenen Abmahnung die Antwort des späteren Antragsgegners vollständig vorgelegt werden muss, d.h. auch unter Einschluss der Anlagen. Dies war hier nicht geschehen, was das BVerfG als ersten Fehler kritisierte.
Zudem hatte der Antragsteller seine Argumentation noch um weitere rechtliche Aspekte erweitert und das Unterlassungsbegehren auf andere Äußerungen erstreckt, die in der Abmahnung nicht enthalten gewesen waren. Dies kritisierte das BVerfG als zweiten Fehler, weil es verfassungsrechtlich geboten sei, den Gegner auch zu diesen Argumenten und Sachverhalten anzuhören. Insbesondere zu den neu eingeführten Angriffen und Argumenten hätte das Gericht daher den Antragsgegner anhören müssen, weil eine Kongruenz des der Entscheidung zugrundeliegenden Antrags zur vorprozessualen Abmahnung nicht mehr gegeben war. Erst recht galt dies für die neu angegriffenen Sachverhalte, die noch gar nicht Gegenstand der Abmahnung gewesen waren.
Bemerkenswert ist ferner, dass das Gericht auch in der Sondersituation der Corona-Eindämmungsmaßnahmen keine Veranlassung sieht, hiervon abzuweichen. Eine etwa auch fernmündliche Gehörsgewährung sei weiterhin möglich gewesen.
Besonders bemerkenswert ist die Bemerkung des BVerfG, wonach die Pflicht zu einer zügigen und ausgeglichenen Verfahrensführung sich nicht mit dem Erlass der einstweiligen Verfügung erledige. Insbesondere die zögerliche Anberaumung eines Termins zur mündlichen Verhandlung nach dem eingelegten Widerspruch sei im Fall einer ausnahmsweise ohne Einbeziehung der Gegenseite erlassenen einstweiligen Verfügung als Verstoß gegen die prozessuale Waffengleichheit zu beanstanden. Hier wird sich also die Praxis vieler Landgerichte ändern müssen, die bisher Beschlussverfügungen relativ schnell erlassen, aber dann die Widerspruchsverhandlung erst nach Monaten anberaumen.
Insgesamt wird daher diese Rechtsprechung nachhaltig die anwaltliche Tätigkeit in Verfügungsverfahren ändern:
Die Antwort auf diese Frage würde bedeutende Verhaltensänderungen der jeweils angegriffenen Partei nach sich ziehen. Wenn ein Gericht innerprozessual rechtliches Gehör gewähren müsste, weil der Antragsgegner sich vorprozessual noch nicht geäußert hatte, wird der Abgemahnte sich vorprozessual tunlichst gar nicht mehr äußern und auch eine Schutzschrift nicht mehr hinterlegen. Denn damit würde ja der Antragsgegner überhaupt erst den Weg in die Beschlussverfügung eröffnen. Es wäre damit für ihn viel günstiger, auf die Abmahnung nicht zu antworten und stattdessen auf die Anhörung im Verfügungsverfahren zu vertrauen, um dann passgenau auf den konkreten Verfügungsantrag und seine Anlagen erwidern zu können.
Dass die Gerichte aber diesen Weg wählen werden, erscheint unwahrscheinlich. Auch die Entscheidung des BVerfG dürfte in eine andere Richtung zu deuten. Denn das BVerfG hält es für verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn dem Antragsgegner vorprozessual lediglich die Möglichkeit der Gegenäußerung gewährt worden ist. Ausdrücklich wird nämlich in der Entscheidung festgehalten, dass dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit genügt werde, wenn eine Erwiderungsmöglichkeit auf eine Abmahnung bestehe und die Erwiderung dann vollständig vorgelegt werde.
Die Gerichte dürften also das Schweigen des Antragsgegners auf die (mit ausreichender Frist versehene) Abmahnung als eine hinreichende Gewährung rechtlichen Gehörs betrachten.
Umso wichtiger wird dann aber die Erwiderung auf die Abmahnung seitens der angegriffenen Partei.
Die Entscheidung des BVerfG wird daher wesentliche Änderungen des Verfahrensrechts und insbesondere der anwaltlichen Praxis im Vorfeld von Verfügungsverfahren nach sich ziehen müssen.