Im März 2017 hat die britische Regierung ein so genanntes White Paper (ein Bericht der Regierung mit Informationen oder Vorschlägen zu einem bestimmten Thema) dazu veröffentlicht, wie sie den rechtlichen Übergang von dem Status des Vereinigten Königreichs als Mitglied der EU zu dem Status als Nichtmitglied nach Brexit umsetzen will. Es wurden zuvor Befürchtungen geäußert, dass es nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU, der für den 29. März 2019 geplant ist, ein „schwarzes Loch“ im britischen Gesetzbuch geben würde. Da in Großbritannien Tausende von Gesetzen und Vorschriften auf EU-Recht basieren, ist es unmöglich, dieses bestehende EU-Recht innerhalb von zwei Jahren zu ersetzen. Mit dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU würde jedoch die Anwendbarkeit aller EU-Vorschriften, Richtlinien und Verordnungen enden. Die Withdrawal Bill beabsichtigt ein solches Szenario zu vermeiden und einen reibungslosen Übergang nach Brexit zu ermöglichen.
Die drei zentralen Inhalte der Withdrawal Bill sind folgende:
Aufhebung des European Communities Act 1972, ein Gesetz, das den rechtlichen Vorrang von EU-Recht vor nationalem britischen Recht regelt. Nach Brexit wird dies nicht länger gelten.
Übertragung des bestehenden EU-Rechts in nationales Recht.Tausende von europäischen Gesetzen, Diktaten und Richtlinien werden in das nationale Recht des Vereinigten Königreichs integriert, so dass sie nach Brexit weiterhin gelten.
Befugnisse zur Verabschiedung von Sekundärgesetzgebung. Den Ministern der britischen Regierung werden im Zuge von Brexit befristete Befugnisse erteilt, EU-Gesetze durch Sekundärgesetzgebung abzuändern.
Die Withdrawal Bill wird den Vorrang des EU-Rechts vor dem nationalen Recht im Vereinigten Königreich am „exit day“ (einem Begriff, der in dem Gesetz eingeführt wird, aber noch definiert werden muss) beenden. Nach Brexit müssen neu erlassene Gesetze nicht mehr mit den in Brüssel erlassenen Gesetzen im Einklang stehen. Zudem kann ein Verstoß gegen die allgemeinen Prinzipien des EU-Rechts am oder nach dem „exit day“ nicht mehr gerichtlich gelten gemacht werden.
Die Withrawal Bill beabsichtigt, eine Momentaufnahme des EU-Rechts einschließlich des auf EU-Recht basierenden nationalen Rechts und der Gerichtsentscheidungen des Europäischen Gerichtshofes unmittelbar vor Brexit zu machen. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist davon jedoch ausgeschlossen. Dieser Bestand an beibehaltenem EU-Recht wird vom Zeitpunkt des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der EU an so lange gelten, bis er vom britischen Parliament durch Gesetz abgeändert wird. Während der Vorrang des EU-Rechts hinsichtlich post-Brexit Gesetzen oder Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs ab dem „exit day“ nicht mehr gelten wird, so findet dieser Vorrang jedoch immer noch Anwendung bei der Auslegung, Nichtanwendung oder Aufhebung von sämtlichen rechtlichen Vorschriften, die vor Brexit erlassen wurden. Eine beibehaltene EU-Verordnung hätte zum Beispiel Vorrang vor einem vor Brexit erlassenem nationalen Gesetz, das der EU-Verordnung widerspricht.
Ab dem “exit day” wird das beibehaltene EU-Recht die gleiche Bindungswirkung vor nationalen Gerichten haben wie Urteile des Supreme Court oder des High Court of Justiciary (HCJ) in Schottland. Ein Gericht muss die Wirksamkeit, Bedeutung oder Auswirkung eines beibehaltenen EU-Gesetzes im Einklang mit beibehaltenen Gerichtsentscheidungen und beibehaltenen allgemeinen Prinzipien des EU-Rechts auslegen, soweit diese für eine Entscheidung relevant sind und solange das entsprechende EU-Gesetz nicht an oder nach dem “exit day” abgeändert wurde (Klausel 6(3) der Withdrawal Bill).
Ein Gericht kann zudem alles, was vom Europäischen Gerichtshof, einer anderen europäischen Einrichtung oder der EU verfasst wurde auch nach dem „exit day“ bei einer Entscheidung mit in Erwägung ziehen, falls und soweit dies dem Gericht als angemessen erscheint (Klausel 6(2) der Withdrawal Bill).
Nach Brexit sind die Gerichte im Vereinigten Königreich nicht mehr an die Grundsätze und Urteile des Europäischen Gerichtshofs, die am oder nach dem „exit day“ verfasst wurden, gebunden. Gleichzeitig können die Gerichte auch keine Verfahren mehr an den Europäischen Gerichtshof weiterverweisen. Der Supreme Court und der HCJ sind nicht mehr an beibehaltenes europäisches Fallrecht gebunden (Klausel 6(4)(a)). Wenn der Supreme Court oder der HCJ beachsichtigen, von beibehaltenem europäischen Fallrecht abzuweichen, müssen sie jedoch das gleiche Verfahren anwenden, das sie bei einer Abweichung von ihren eigenen Entscheidungen anwenden würden. Damit haben die vor Brexit gefällten Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs den gleichen Status und die gleiche Bindungswirkung wie die Urteile des Supreme Court und des HCJ.
Man geht davon aus, dass etwa 12,000 EU-Vorschriften im Vereinigten Königreich in Kraft sind, während das britische Parlament etwa 7,900 Rechtsverordnungen zur Umsetzung weiteren EU-Rechts und 186 Gesetze, die durch EU-Recht beeinflusst sind, erlassen hat. Es gibt einige technische Probleme bei der Übertragung von EU-Recht in nationales Recht. Viele EU-Gesetze enthalten Verweise auf EU-Einrichtungen, an denen das Vereinigte Königreich nach Brexit nicht mehr beteiligt sein wird, oder erwähnen EU-Recht, welches nach Brexit nicht mehr Teil des Rechtssystems des Vereinigten Königreichs sein wird.
Die Withdrawal Bill ermächtigt Minister der britischen Regierung, Rechtsverordnungen zu erlassen, um eine mögliche Unwirksamkeit oder sonstige Defizite von beibehaltenem EU-Recht aufgrund des Ausstiegs des Vereinigten Königreichs aus der EU zu vermeiden, zu beheben oder zu beschränken (Klausel 7(1) der Withdrawal Bill).
Die Withdrawal Bill bestimmt auch, dass die Rechtsverordnungen nach Klausel 7 alles regeln können, was durch ein parlamentarisches Gesetz geregelt werden könnte. Dies umfasst auch die Abänderung von primärer Gesetzgebung.
Die Withdrawal schlägt vor, dass Rechtsverordnung nach Klausel 7 nur bis zu zwei Jahre nach dem „exit day“ erlassen werden können und dass die Befugnisse aufgrund der Rechtsverordnungen zu diesem Zeitpunkt auf jeden Fall enden. Zudem sind die Rechtsverordnungen nach Klausel 7 der „negative resolution procedure“ unterworfen, d.h. sie treten automatisch ohne Debatte im Parlament in Kraft, es sei denn es wird ein Einspruch aus einem der beiden Houses of Parliament erhoben. Die Rechtsverordnungen können auch aufgehoben werden, wenn sie nicht beiden Houses of Parliament vorgelegt und von diesen bestätigt werden.
Die Withdrawal Bill räumt Ministern jedoch unter Klausel 7(1) auch die Befugnis ein, Rechtsverordnungen ohne die Überprüfung der Houses of Parliament aus Gründen der Dringlichkeit zu erlassen. Eine Rechtsverordnung aufgrund von Dringlichkeit hätte nur einen Monat lang Bestand, wenn sie nicht zwischenzeitlich vom Parlament bestätigt wird.
Zusätzlich zu der Befugnis, korrigierende Sekundärgesetze zu erlassen, räumt die Withdrawal Bill den Ministern auch Befugnisse ein, Rechtsverordnungen zu erlassen, die sie als Konsequenz der Withdrawal Bill für angemessen halten. Dies beinhaltet jedoch nicht die Befugnis, Primärrecht abzuändern.
Ja, das britische Parlament wird im Rahmen des normalen Gesetzgebungsverfahrens über die Withdrawal Bill abstimmen. Die erste Lesung durch den Secretary of State for Exiting the European Union, David Davis, fand am 13. July 2017 statt. Man geht davon aus, dass die zweite Lesung erst nach der Sommerpause des Parlaments Anfang September 2017 erfolgen wird. Bedenkt man die erste Reaktion auf die Withdrawal Bill, ist zu erwarten, dass die Abgeordneten des britischen Parlaments das Gesetz über mehrere Tage hinweg debattieren werden, und dass Anträge auf Abänderungen gestellt werden und über diese abgestimmt wird. Eine finale Abstimmung wird nicht vor Oktober erwartet.
Die Withdrawal Bill löste eine kontroverse politische Debatte aus. Die zwei Hauptkritikpunkte werden im Folgenden beschrieben:
Kritiker des Gesetzes, unter anderem die Oppositionsparteien, behaupten, dass die Withdrawal Bill der Regierung zu weite Befugnisse einräumt und nennen die entsprechenden Klauseln „Henry VIII clauses“, ein Verweis auf das Statute of Proclamation 1539, welches Henry VIII die Befugnis einräumte, Gesetze per Proklamtion zu erlassen. Die Withdrawal Bill regelt, dass Minister ihre übertragenen Befugnisse nach ihrem Ermessen einsetzen können, so dass es ihnen obliegt zu entscheiden, wann ein beibehaltenes EU-Gesetz fehlerhaft ist und wann dringliche Umstände vorliegen. Dies mag jedoch nicht immer einfach und eindeutig zu bestimmen sein. Deshalb behaupten einige Einrichtungen und Kommentatoren, dass die in der Withdrawal Bill vorgesehenen Befugnisse die britische Regierung dazu befähigen würde, Gesetze in einem noch nie dagewesenen Umfang ohne die Überprüfung durch das Parlament zu erlassen, und damit Ministern umfassende Befugnisse zu übertragen, die zu überstürzten und schlecht durchdachten Gesetzen führen würden.
Die britische Regierung hat versucht, die Kritiker zu beschwichtigen, indem sie Regelungen in die Withdrawal Bill mit aufgenommen hat, die bestimmen, dass die Befugnisse befristet sind und einer bestimmten Überprüfung durch das Parlament unterliegen. Zudem ist zu erwägen, dass übertragene Gesetzgebung der gerichtlichen Überprüfung unterliegt, wodurch eine Möglichkeit gegeben ist, bedenkliche Sekundärgesetzgebung zu hinterfragen.
Ein Teil des EU-Rechts betrifft Bereiche, die von den dezentralen Verwaltungsstrukturen (Schottland, Wales und Nordirland) kontrolliert werden – womit sich die Frage stellt, ob diese Bereiche nachdem sie von Brüssel zurückgenommen wurden Teil der Zuständigkeiten von Westminster werden, oder ob sie dem Verantwortungsbereich von Schottland, Wales und Nordirland zugeordnet werden.
Die schottische Regierung behauptet, dass die Regierung in Westminster mit der Withdrawal Bill eine “Machtübernahme” plant, da sie sich weigert, alle Veranwortlichkeiten, die augenblicklich von der EU in den dezentralen Verwaltungsbereichen ausgeübt werden, wie zum Beispiel hinsichtlich Fischerei und Landwirtschaft, zu übertragen. Bisher besteht noch Unklarheit darüber, wie der Übergang genau erfolgen wird. Die britische Regierung meint jedoch, dass sie eng mit den dezentralen Verwaltungen zusammenarbeiten wird. Sie sagt zudem voraus, dass die Rückholung der Befugnisse von Brüssel zu einem bedeutendem Zuwachs der Verantwortlichkeiten der dezentralen Verwaltungen führen wird. Minister der Regierung haben zudem bestätigt, dass die dezentralen Verwaltungen dazu aufgefordert werden, der Withdrawal Bill zuzustimmen. Dies stellt jedoch kein Veto-Recht dar.
Trotz der bestehenden politischen Kontroverse hinsichtlich der Withdrawal Bill ist es sehr wahrscheinlich, dass deren Hauptinhalte Royal Assent erhalten und damit Gesetz werden. Mit der Withdrawal Bill wird der Vorrang des EU-Rechts in dem Vereinigten Königreich am „exit day“ enden. Es sollte jedoch darauf hingewiesen werden, dass ein anfangs umfangreicher Bestand an beibehaltenem EU-Recht immer noch dem (historischen) rechtlichen Vorrang der EU und den Gerichtsentscheidungen des Europäischen Gerichtshofs unterliegt; dies ist solange und soweit der Fall, bis Gesetze an oder nach dem „exit day“ abgeändert werden. Das Hauptziel der Withdrawal Bill ist es, dass das britische Parlament den Bestand an Gesetzen abändern kann, ohne dem Vorrang des EU-Rechts Beachtung schenken zu müssen. Es bleibt abzuwarten, wie schnell beibehaltenes EU-Recht nach Brexit abgändert wird, wahrscheinlich wird es sich dabei um einen schrittweisen Prozess handeln. Das Szenario eines „schwarzen Loches“ wird jedoch durch die Withdrawal Bill vermieden werden.