In unserem Newsletter vom August 2017 hatten wir über den Beschluss des Bundesgerichtshofs „Rückruf von Rescue-Produkten“ (GRUR 2017, 208 ff.) berichtet und auf eine noch ausstehende weitere Entscheidung des BGH zu diesem Problemkreis hingewiesen. Diese ist mittlerweile veröffentlicht: Am 11.10.2017 hat der Bundesgerichtshof in der Rechtssache I ZB 96/16 beschlossen, dass die Verpflichtung zur Unterlassung einer Handlung, durch die ein fortdauernder Störungszustand geschaffen wurde, auch in einem einstweiligen Verfügungsverfahren mangels abweichender Anhaltspunkte dahin auszulegen ist, dass sie neben der Unterlassung derartiger Handlungen auch die Vornahme möglicher und zumutbarer Handlungen zur Beseitigung des Störungszustands umfasst.
Eine im Verfügungsverfahren grundsätzlich unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache liegt nach Auffassung des Bundesgerichtshofs regelmäßig dann nicht vor, wenn der Schuldner die von ihm vertriebenen Waren nicht bei seinen Abnehmern zurückzurufen, sondern diese lediglich aufzufordern hat, die Waren im Hinblick auf die einstweilige Verfügung vorläufig nicht weiter zu vertreiben.
Der BGH bekräftigt einmal mehr: Ein Unterlassungstitel verpflichtet den Schuldner außer zur Unterlassung weiterer Vertriebshandlungen auch dazu, aktiv Maßnahmen zu ergreifen, die den Weitervertrieb der rechtsverletzend aufgemachten Produkte verhindern können. Allerdings beschränkt sich die Handlungspflicht des Schuldners darauf, im Rahmen des Möglichen, Erforderlichen und Zumutbaren auf Dritte einzuwirken. Auch können sich aus der Eigenart des Verfügungsverfahrens sowie aus den engen Voraussetzungen für die Vorwegnahme der Hauptsache und den im Verfügungsverfahren eingeschränkten Verteidigungsmöglichkeiten des Antragsgegners Beschränkungen bei der Annahme von Rückrufpflichten aufgrund eines Unterlassungstitels ergeben.
Die Pflicht des Schuldners werde durch das ihm Mögliche und Zumutbare aber nicht nur begründet, so der BGH, sondern auch begrenzt. So dürfe der Schuldner zwar einerseits nicht untätig bleiben, wenn und soweit die Auslegung des Unterlassungstitels eine Pflicht zum positiven Handeln ergebe; er müsse aber weder etwas tun, was zur Verhinderung weiterer Verletzungen nichts beitrage und deswegen nicht erforderlich sei, noch müsse er Maßnahmen der Störungsverhinderung oder -beseitigung ergreifen, die ihn in seiner gewerblichen Tätigkeit unverhältnismäßig benachteiligten und deshalb unzumutbar seien.
Da sich damit jedoch die im Wege der Auslegung zu ermittelnde Verpflichtung des Unterlassungschuldners zum Rückruf inhaltlich von dem unterscheide, was nach den spezialgesetzlichen Rückrufsansprüchen geschuldet sei, sei es auch unerheblich, ob der Gläubiger gegen den Schuldner zusätzlich zum materiell-rechtlichen Unterlassungsanspruch Ansprüche auf Beseitigung und Rückruf aus § 98 Abs. 2 UrhG, § 18 Abs. 2 MarkenG, § 43 Abs. 2 DesignG, § 140a Abs. 3 PatG, § 24a Abs. 2 GebrMG oder § 37a Abs. 2 SortenschutzG habe. Denn diese spezialgesetzlichen Regelungen entfalteten gegenüber einer auf Rückruf gerichteten Auslegung des Unterlassungsanspruchs keine Sperrwirkung. Zwar werde typischerweise eine Konkurrenz zwischen den spezialgesetzlichen Rückrufansprüchen und einer auf einem Unterlassungstitel beruhenden Rückrufpflicht in Fällen eintreten, in denen ein Vertrieb rechtsverletzend gestalteter, gekennzeichneter oder aufgemachter Erzeugnisse bereits erfolgt und der fortgesetzte Vertrieb durch den oder die Abnehmer des Schuldners rasch und in erheblichen Mengen zu erwarten sei. Daneben verbleibe für die spezialgesetzlichen Rückrufansprüche aber ein eigenständiger Anwendungsbereich, wenn nämlich rechtsverletzend gestaltete, ge-kennzeichnete oder aufgemachte Erzeugnisse zwar vertrieben worden seien, ein weiterer Vertrieb aber nicht konkret zu erwarten sei.
Wann von einer „konkreten Erwartung eines weiteren Vertriebs“ in der Praxis ausgegangen werden muss, führt der Bundesgerichtshof allerdings nicht aus. Er legt lediglich dar, der Unterlassungsschuldner sei in gleicher Weise wie der Schuldner eines spezialgesetzlichen Rückrufanspruchs verpflichtet, gegenüber seinen Abnehmern mit Nachdruck und Ernsthaftigkeit sowie unter Hinweis auf den rechtsverletzenden Charakter der Erzeugnisse deren Rückerlangung zu versuchen. Allerdings schulde der Unterlassungsschuldner keinen Erfolg des Rückrufs.
Unter Berücksichtigung des Umstands, dass im einstweiligen Verfügungsverfahren die Hauptsache nur unter engen Voraussetzungen vorweggenommen werden darf, trifft der Bundesgerichtshof folgende Unterscheidung:
Sofern nicht aufgrund konkreter Anhaltspunkte davon ausgegangen werden muss, dass der Schuldner versucht hat, sich seiner Unterlassungspflicht durch die schnelle Weiterveräußerung der fraglichen Waren faktisch zu entziehen, oder ein Fall von Produktpiraterie vorliegt, kommt eine Rückrufverpflichtung von rechtsverletzend gekennzeichneter oder aufgemachter Ware, die vor Erlass und Zustellung der Unterlassungsverfügung vertrieben worden ist, in der Regel nicht in Betracht. Der Unterlassungstitel kann jedoch dahingehend auszulegen sein, dass der Schuldner Dritte zwar zur Abstandnahme von weiteren Verletzungshandlungen anzuhalten hat, dass die insoweit geschuldeten Maßnahmen aber allein der Sicherung der Ab-wehransprüche des Gläubigers dienen können müssen, ohne den Gläubiger in diesen Ansprüchen abschließend zu befriedigen. Insoweit soll nach Auffassung des BGH eine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache dann nicht vorliegen, wenn der Schuldner die von ihm vertriebenen Waren aufgrund der gegen ihn ergangenen einstweiligen Verfügung nicht bei seinen Abnehmern zurückzurufen, sondern diese lediglich aufzufordern hat, die erhaltenen Waren im Hinblick auf die einstweilige Verfügung vorläufig nicht weiter zu vertreiben. Diese Vorgehensweise sei für den Schuldner nicht unzumutbar, weil ihn ohnehin die vertragliche Nebenpflicht treffe, den Abnehmer darauf hinzuweisen, dass er beim Weitervertrieb der Ware mit einer einstweiligen Verfügung zu rechnen habe. Der Bundesgerichtshof belässt dem Schuldner allerdings eine Entlastungsmöglichkeit, dann nämlich, wenn angenommen werden kann, dass die Abnehmer der Produkte von diesen Maßnahmen auch ohne eine entsprechende Information durch den Schuldner Kenntnis erlangen.
Mit dieser Rechtsprechung rückt der Bundesgerichtshof aufgrund kritischer Stimmen in Teilbereichen von seiner „Rescue-Tropfen“-Entscheidung ab. Im Hinblick auf das Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache differenziert der BGH dahingehend, dass im Rahmen eines einstweiligen Verfügungsverfahrens die Beseitigung nicht in Form eines Rückrufs verlangt werden kann, sondern lediglich in Form einer Aufforderung des Schuldners an seine Abnehmer, die bezogenen Waren im Hinblick auf die einstweilige Verfügung vorläufig nicht weiter zu vertreiben. Dieser Aufforderung müssen die Kunden jedoch nicht Folge leisten. Speziell im Pharmasektor stellt sich jedoch die Frage, ob in Anbetracht der beschränkten Lagerkapazitäten eine solche Aufforderung nicht doch dazu führt, dass der Großhandel die Ware zurückgeschickt bzw. den pharmazeutischen Unternehmer auffordert, die Ware zurückzunehmen – was im Ergebnis einem Rückruf gleichkommt.
Als Konsequenz aus der Differenzierung des Bundesgerichtshofs zwischen dem Hauptsache- und dem einstweiligen Verfügungsverfahren ist festzuhalten, dass der Abgemahnte, der eine Unterlassungserklärung abgeben, einen Rückruf jedoch vermeiden möchte, ausdrücklich die Einschränkung vornehmen sollte, dass die abzugebende Unterlassungserklärung nicht den Beseitigungsanspruch umfasst.
Wer selbst eine Abmahnung ausspricht, sollte sich im Hinblick auf den Schadensersatzanspruch nach § 945 ZPO bei späterer Aufhebung der einstweiligen Verfügung gut überlegen, ob er nicht bereits im Rahmen des Verfügungsantrags oder des Sachvortrags ausdrücklich klarstellt, dass nur Unterlassung und nicht auch Rückruf geltend gemacht wird. Auf einem abgegrenzten Wirtschaftssektor – wie beispielsweise im Pharmabereich –, in dem sich die jeweiligen Marktteilnehmer immer wieder in einstweiligen Verfügungen gegenüberstehen, wäre es zudem wünschenswert, dass vom Beseitigungsanspruch, d. h. von Rückrufforderungen, insgesamt Abstand genommen würde, um den damit einhergehenden Aufwand und die Marktverunsicherung zu vermeiden. Zwar kann es verlockend sein, einen solchen Rückruf bzw. die Aufforderung zum vorläufigen Nicht-Weitervertreiben gegenüber einem Konkurrenten durchzusetzen. Hierbei sollte aber stets bedacht werden, dass sich gerade Pharma-Firmen immer wieder auch in der anderen prozessualen Situation mit dem gleichen Gegner wiederfinden. Weiter ist speziell im Pharmabereich zu berücksichtigen, dass ein Rückruf und dessen Kommunikation an die Handelsstufen und Fachkreise einem arzneimittelrechtlich bedingten Rückruf und dem Rote-Hand-Brief vorbehalten bleiben sollte, um hier keine zusätzliche Unsicherheit zu schaffen.