Die Kernfrage geht dahin, ob und wenn ja, unter welchen Bedingungen im Erteilungsverfahren zur Beurteilung der Patentierbarkeit die Beschreibung und die Zeichnungen bei der Auslegung eines Anspruchs herangezogen werden können und inwieweit ein Patent als sein eigenes Wörterbuch dienen kann.
Die vorlegende Beschwerdekammer hat in dem sehr ausführlich begründeten Vorlagebeschluss dargelegt, dass es innerhalb des EPA unterschiedliche Entscheidungsrichtungen gibt. Eine strengere Linie sieht vor, dass im Erteilungsverfahren die Begriffe der Patentansprüche aus sich selbst heraus zu verstehen und auszulegen sind. Die Beschreibung und die Zeichnungen sind dabei entweder gar nicht heranzuziehen oder nur dann heranzuziehen, wenn Unklarheiten beim Verständnis der Begriffe des Anspruchs bestehen.
Im betreffenden Fall ergab sich eine Divergenz zwischen der Bedeutung eines Anspruchsmerkmals nach dem allgemeinen Verständnis des Fachmanns und nach der Erläuterung in der Beschreibung. Der Anspruchsinhalt wäre daher unterschiedlich zu verstehen, je nachdem ob man die Beschreibung zur Auslegung heranzieht oder nicht. Wenn man sie herangezogen hätte, wäre ein bestimmter Stand der Technik neuheitsschädlich gewesen. Hätte man sie nicht herangezogen, wäre dies nicht der Fall gewesen.
Die Beschwerdekammer hat darauf abgestellt, dass die Verletzungsgerichte, jedenfalls aber das EPG und die Verletzungsgerichte großer Mitgliedsländer des EPÜ (UK, Deutschland, Frankreich) grundsätzlich die Beschreibung die Zeichnungen zur Auslegung der Anspruchsmerkmale heranziehen. Am deutlichsten ist dabei wohl der BGH, der vorschreibt, dass eine Auslegung immer anhand der Beschreibung der Zeichnungen zu erfolgen hat und eine Auslegung auch dann erforderlich ist, wenn ein Anspruchsmerkmal vermeintlich klar ist. Denn, ob das Anspruchsmerkmal eine klare Bedeutung hat, weiß man erst nach einer ordnungsgemäßen Auslegung anhand der Beschreibung und Zeichnungen. Ähnlich sehen dies auch die Gerichte in UK und Frankreich.
Die große Beschwerdekammer wird daher diese sehr grundsätzliche Frage beantworten müssen. Es steht zu hoffen, dass die Große Beschwerdekammer der Rechtsprechung der Verletzungsgerichte folgt. Denn aus systematischen Gründen kann und darf es nicht sein, dass im Erteilungsverfahren eine andere Anspruchsauslegung vorgenommen wird, als im Verletzungsverfahren. Ein kohärentes Patentsystem setzt voraus, dass im Erteilungsverfahren, im Rechtsbestandsverfahren und im Verletzungsverfahren grundsätzlich die gleiche Anspruchsauslegung vorgenommen wird. Außerdem gebieten Art. 69 EPÜ und das Auslegungsprotokoll die Auslegung anhand der Beschreibung und der Zeichnungen, sodass auch nicht zu erwarten ist, dass die Verletzungsgerichte ihrerseits eine Änderung ihrer Rechtsprechung vornehmen werden.