BGH, Urt. v. 17.11.2020, X ZR 132/18 – Kranarm
Die Rechtsfigur der Äquivalenz und die damit einhergehende Frage der Verletzung eines Patentanspruchs außerhalb des wortsinngemäßen Schutzes gehören zu den anspruchsvollsten Aufgaben der patentrechtlichen Beratung. Dies liegt zum einen an der sich im Fluss befindlichen Rechtsprechung und zum anderen an der im Einzelfall notwendigen Wertung, ob eine Lösung außerhalb des Wortsinns noch dem Schutzbereich des Patents zuzuordnen ist. Diese Zuordnung und damit die Annahme einer äquivalenten Lösung im Rechtssinn bedürfen der drei Voraussetzungen: 1) einer technischen Gleichwirkung, die 2) für den Fachmann naheliegend ist und 3) die der Fachmann orientiert am Sinngehalt des Patentanspruchs als gleichwertige Lösung in Betracht zieht. Mit der aktuellen Entscheidung „Kranarm“ beschreitet der BGH keine neuen Wege. Der BGH bestätigt vielmehr seine bisherige Rechtsprechung zur Beurteilung der Gleichwirkung. Mit der Entscheidung trägt der BGH zur Rechtssicherheit bei und stärkt dadurch die Position sowohl von Patentinhabern als auch von Wettbewerbern.
Die Einbeziehung äquivalenter Lösungen in den Schutzbereich dient dem angemessenen Schutz der erfinderischen Leistung. Dies steht jedoch zugleich im Spannungsverhältnis zum Gebot der Rechtssicherheit. Für den Ausgleich dieser widerstreitenden Interessen fordert die Rechtsprechung, dass der Sinngehalt der Patentansprüche die maßgebliche Grundlage für die Bestimmung des Schutzbereichs bildet (BGH, Urt. v. 12.03.2002, X ZR 168/00 – Schneidmesser I, GRUR 2002, 515, 517). Entsprechend verlangt die Rechtsprechung, dass eine vom Wortsinn abweichende Lösung, die äquivalent zur wortsinngemäßen Lösung dem Schutzbereich zugeordnet wird, am Patentanspruch orientiert sein muss. Das bedeutet, dass der Fachmann die zwar abgewandelten, aber objektiv gleichwirkenden Mittel zur Lösung des Problems mit Überlegungen auffinden können muss, die am Sinngehalt der im Patentanspruch unter Schutz gestellten Lehre orientiert sind (BGH – Schneidmesser I, GRUR 2002, 515, 517).
Ausgangslage
In dem konkreten Fall „Kranarm“ lag dem BGH eine Entscheidung des OLG München vor, in der das OLG München eine äquivalente Verletzung des Klagepatents angenommen hatte. Das Klagepatent (EP1889808B1) betrifft einen Kranarm mit einer Befestigungsvorrichtung für Arbeitsgeräte, die mit Drehgelenken nach der Art eines Kardangelenks ausgestattet ist. Das Klagepatent adressiert das technische Problem, das Kardangelenk insgesamt möglichst stabil auszubilden und die Anschlüsse für die Schlauchleitungen gut zugänglich zu machen, ohne dass der Schutz der Schlauchleitungen vor Beschädigungen von außen beeinträchtigt wird (BGH – Kranarm, Rz. 13).
Zur Lösung des Problems sah der streitige Patentanspruch 1 unter anderem vor, dass die Schlauchleitungen (7), die vom Kranarm zum Arbeitsgerät am Kardangelenk vorbei verlaufen, „zwischen den beiden Drehlagern (4a und 4b) des kranseitigen Drehgelenks (4)“ (Merkmal 3.1 der Merkmalsgliederung des BGH, Rz. 13) und „in Richtung der Drehachse (y) des arbeitsseitigen Drehgelenks (5) versetzt an diesem Drehgelenk vorbei“ (Merkmal 3.2) verlaufen. Zum besseren Verständnis ist nachfolgend das Ausführungsbeispiel gemäß Figur 4 dargestellt: (Bild im Newsletter dargestellt)
Das OLG München stellte fest, dass die angegriffenen Ausführungsformen 1 und 2 das Merkmal 3.1 nicht verwirklichen, da die Schlauchleitungen nicht zwischen den beiden Drehlagern (4a und 4b) des kranseitigen Drehgelenks (4) verliefen, sondern um ein Bauteil herum, das die beiden Drehlager verbindet und den Raum dazwischen ausfüllt (BGH – Kranarm, Rz. 17). Gut sichtbar ist das an der nachfolgenden Abbildung der angegriffenen Ausführungsform 2 (BGH – Kranarm, Rz. 4; Hervorhebung in Rot hinzugefügt): (Bild im Newsletter dargestellt)
Das OLG München bejahte jedoch eine Verwirklichung des Patentanspruchs 1 mit äquivalenten Mitteln und nahm – anders als das Landgericht – eine Gleichwirkung an. Zwar sei der mit Merkmal 3.1 bezweckte Schutz der Schlauchleitungen nur eingeschränkt erreicht. Dies stehe einer Gleichwirkung jedoch nicht entgegen, da die erfindungsgemäße Wirkung des Schutzes der Schlauchleitungen vor Beschädigungen durch äußere Einwirkungen noch in maßgeblicher Weise dadurch erreicht werde, dass die Schlauchleitungen, nachdem sie um das Bauteil zwischen den Drehlagern herumgeführt seien, anschließend wieder auf der dem Kranarm zugewandten Seite der Befestigungsvorrichtung zwischen den beiden vertikal zur Drehachse verlaufenden plattenförmigen Trägereinrichtungen geführt würden (BGH – Kranarm, Rz. 18).
Entscheidung des BGH
Diese Begründung ließ der BGH nicht ausreichen, so dass eine Gleichwirkung jedenfalls nicht auf Grundlage der Argumentation des OLG München angenommen werden könne. Der BGH führte aus, dass für die Frage der Gleichwirkung entscheidend sei, welche einzelnen Wirkungen die patentgemäßen Merkmale – für sich und insgesamt – zur Lösung der dem Patentanspruch zugrundeliegenden Aufgabe bereitstellten und ob diese Wirkungen bei der angegriffenen Ausführungsform durch andere Mittel erzielt würden (BGH – Kranarm, Rz. 42 f.). Eine Gleichwirkung erfordere dabei nicht, dass die abweichende Gestaltung die erfindungsgemäße Wirkung ohne jede Einschränkung erreiche. Es genüge, dass die erforderliche Wirkung durch abgewandelte Mittel nur in eingeschränktem Umfang erzielt werde. Die Annahme einer Gleichwirkung könne bereits dann sachgerecht sein, wenn die erfindungsgemäße Wirkung im Wesentlichen, also in einem praktisch noch erheblichen Maße, erzielt werde. Hierfür komme es auf die patentgemäße Wirkung und eine sich hieran orientierende Gewichtung der bei den angegriffenen Ausführungsformen festgestellten Defizite an (BGH – Kranarm, Rz. 47).
Zum vorliegenden Streitfall führte der BGH aus, dass der Schutz der Schlauchleitungen im Bereich der beiden Drehgelenke durch die Merkmale 3.1 und 3.2 gewährleistet werde. Vor diesem Hintergrund reiche es – entgegen der Annahme des OLG – nicht aus, dass die Schlauchleitungen nur im weiteren Verlauf durch Bauteile des Kranarms vor äußeren Einwirkungen geschützt sind, nicht aber im Bereich des kranarmseitigen Drehgelenks (BGH – Kranarm, Rz. 44-46, 48). Da die bisherigen Feststellungen die Annahme einer Gleichwirkung nicht tragen, diese gleichwohl aber auch nicht ausgeschlossen werden könne, verwies der BGH die Sache an das OLG zurück (BGH – Kranarm, Rz. 49 ff.).
Konsequenzen für die anwaltliche Praxis
Die Entscheidung ändert nichts an den bisherigen Grundsätzen. Es bleibt dabei, dass die Beurteilung einer Gleichwirkung eine präzise Ausarbeitung der erfindungsgemäßen Wirkungen und deren Zuordnung zu den relevanten Anspruchsmerkmalen sowie anschließend zu den abgewandelten, etwaigen äquivalenten Mitteln voraussetzt. Mit der Bestätigung seiner bisherigen Rechtsprechung trägt der BGH jedoch zur Rechtsicherheit bei, was (nicht nur) für die anwaltliche Beratungspraxis vom hohen Stellenwert ist.