Der Schutzbereich der europäischen Patente wird durch die Patentansprüche bestimmt. Dies formuliert Art. 69 Abs. 1 EPÜ. Ergänzt wird diese Regelung durch das Auslegungsprotokoll zu Art. 69 EPÜ dessen Art. 1 die Auslegung dahingehend konkretisiert, dass sich der Schutzumfang aus dem genauen Wortlaut der Patentansprüche ergebe und dass Beschreibung und Zeichnungen nur zur Behebung etwaiger Unklarheiten anzuwenden seien.
Art. 2 des Auslegungsprotokoll formuliert dann, dass bei der Bestimmung des Schutzbereichs solchen Elementen gebührend Rechnung zu tragen sei, die Äquivalente der in den Patentansprüchen genannten Elemente seien.
Der vagen Formulierung des EPÜ folgend hat sich eine durchaus unterschiedliche nationale Rechtsprechung entwickelt, nach welchen Maßstäben Äquivalente zu bestimmen sind. So unterscheidet sich die Rechtsprechung in Deutschland, Frankreich, Vereinigtem Königreich etc. durchaus in der Bestimmung dessen, was als ein patentrechtliches Äquivalent anzusehen ist.
Der BGH hat in seiner Rechtsprechung die drei sogenannten Schneidmesserfragen herausgearbeitet, die zur Bestimmung eines Äquivalents dienen, nämlich Gleichwirkung, Naheliegen und Gleichwertigkeit.
Die Kriterien sind danach, dass
1) das der Erfindung zu Grunde liegende Problem mit abgewandelten, aber objektiv gleichwirkenden Mitteln gelöst wird,
2) der betreffende Fachmann aufgrund seiner Fachkenntnisse in der Lage war, die abgewandelten Mittel als gleichwirkend aufzufinden und dass
3) die Überlegungen, die der Fachmann anstellen musste, um zu dem abgewandelten Mittel zu gelangen, derart am Sinngehalt der im Patentanspruch unter Schutz gestellten technischen Lehre orientiert sind, dass er die abweichende Ausführung mit ihren abgewandelten Mitteln als gleichwertige Lösung in Betracht zog.
Hinzu kommt noch der sog Formstein-Einwand, wonach ein Äquivalent nicht angenommen werden darf, wenn der Anspruch mit dem abgewandelten Mittel im Stand der Technik liegen würde oder von diesem nahegelegt war. Denn anderenfalls würde man über das Äquivalent den Stand der Technik monopolisieren können. Dazu gehört auch die Frage, ob das angegriffene Produkt seinerseits gegenüber dem Stand der Technik neu und erfinderisch ist.
Nunmehr hat erstmals das einheitliche Patentgericht, Lokalkammer Den Haag (UPC_CFI_239/2023, Verfahrenssprache Englisch) am 22.11.2024 entschieden, wie Äquivalente bestimmt und definiert werden sollen. Das Urteil hat folgenden Leitsatz dazu verfasst:
The test applied to the assessment of infringement by equivalence is based on the case law in various national jurisdictions, as proposed by both parties in this case. This entails that a variation is equivalent to an element specified in the claim if the following four questions are answered in the affirmative.
1) Technical equivalence: does the variation solve (essentially) the same problem that the patented invention solves and perform (essentially) the same function in this context?
2) Farir protection for patentee: Is extending the protection of the claim to the equivalent proportionate to a fair protection for the patentee?
3) Reasonable legal certainty for third parties: does the skilled person understand from the patent that the scope of the invention is broader than what is claimed literally?
4) Is the allegedly infringing product novel and inventive over the prior art?
Der Test, der zur Beurteilung der Verletzung durch Äquivalenz angewendet wird, basiert auf der Rechtsprechung in verschiedenen nationalen Gerichtsbarkeiten, wie von beiden Parteien in diesem Fall vorgeschlagen. Dies bedeutet, dass eine Variante einem im Anspruch genannten Merkmal gleichwertig ist, wenn die folgenden vier Fragen bejaht werden.
1) Technische Äquivalenz: Löst die Variante (im Wesentlichen) dasselbe Problem, das die patentierte Erfindung löst, und erfüllt sie (im Wesentlichen) dieselbe Funktion in diesem Zusammenhang?
2) Fairer Schutz für den Patentinhaber: Ist die Ausweitung des Schutzes des Anspruchs auf das Äquivalent verhältnismäßig zu einem fairen Schutz für den Patentinhaber?
3) Angemessene Rechtssicherheit für Dritte: Versteht der Fachmann aus dem Patent, dass der Umfang der Erfindung breiter ist als das, was wörtlich beansprucht wird?
4) Ist das angeblich verletzende Produkt neu und erfinderisch gegenüber dem Stand der Technik?
Man sieht hier die große Nähe der Definitionen des BGH und des EPG, auch wenn sie sprachlich anders eingekleidet sind. Die technische Äquivalenz des EPG dürfte der Gleichwirkung in der deutschen Rechtsprechung entsprechen. Auch die Testfrage 4 entspricht ersichtlich in Verbindung mit der Testfrage 2 der Formstein-Rechtsprechung. Hinzu kommt das Merkmal der Rechtssicherheit für Dritte. Natürlich liegt dies nahe bei der Gleichwertigkeit nach bisheriger deutscher Rechtsprechung, besitzt jedoch einen anderen Ansatzpunkt, indem ausdrücklich auf die Frage der Rechtssicherheit abgestellt wird, die bei der Äquivalenz immer problematisch ist.
Ersichtlich will sich das EPG an den verschiedenen europäischen Rechtstraditionen bedienen und versucht eine Synthese der Kriterien zu einer einheitlichen Formel. Neu ist für die deutschen Augen die Fairnessprüfung in beide Richtungen, die allerdings implizit in den Schneidmesserfragen 2 und 3 angelegt war.
Aus der Formulierung der Äquivalenz-Testfragen ergibt sich möglicherweise ein etwas breiteres Herangehen, wobei die Ergebnisse gegenüber der deutschen Rechtsprechung vermutlich die gleichen sein dürften. Es scheint eine wünschenswerte europäische Konvergenz in der Frage der Äquivalenz absehbar zu sein, die möglicherweise auch auf die jeweiligen nationalen Gerichte abfärben könnte.